Shardik
hängen, und er wandte sich um, um ihn loszumachen. In diesem Augenblick kam von irgendwoher, keinen Steinwurf weit, ein Schmerzensschrei wie von jemandem, dem eine schreckliche Wunde zugefügt wurde. Er erschrak, als hätte der Blitz nebenan eingeschlagen, und verlor völlig die Fassung. Als er zitternd ins Dunkel starrte, hörte er ein schnelles, lautes Keuchen, gefolgt von einigen gestotterten Worten auf beklanisch, die jäh abbrachen, wie ein durchgeschnittener Faden.
»Sie wird mir einen Sack voll Gold geben!«
Gleich darauf war es wieder still, von Kampf oder von Flucht war nichts zu hören.
»Wer ist da?« rief Kelderek.
Keine Antwort, kein Ton. Der Mann, wer immer er sein mochte, war entweder tot oder bewußtlos. Wer – was – hatte ihn niedergeschlagen? Kelderek ließ sich auf ein Knie sinken, zog sein Schwert und wartete. Er bemühte sich, seinen Atem und die Angst in seinen Eingeweiden zu beherrschen, und kauerte sich noch tiefer, als der Mond einen Augenblick lang schien und dann wieder verschwand. Seine Furcht machte ihn hilflos, und er wußte, daß er zu schwach war, um einen Schlag zu führen.
War es Shardik, der den Mann getötet hatte? Warum gab es keine Geräusche? Er blickte zu der schwach leuchtenden Wolkenbank empor und sah dahinter ein Stück freien Himmels. Das nächstemal, wenn der Mond aus den Wolken kam, mußte er bereit sein, sich augenblicklich umzusehen und zu handeln.
Am Fuß des Hangs bewegten sich die Bäume. Der Wind würde bald zu ihm heraufkommen. Er wartete. Es kam kein Wind, aber das Geräusch in den Bäumen wurde stärker. Es war kein Blätterrauschen, nicht die Zweige, die sich bewegten. Zwischen den Bäumen bewegten sich Menschen! Ja, ihre Stimmen – gewiß – aber sie waren fort – nein, da waren sie wieder – die Stimmen, die er gehört hatte – kein Zweifel, menschliche Stimmen! Es waren die Stimmen von Ortelganern: er konnte sogar das eine oder andere Wort verstehen – Ortelganer, und sie kamen näher!
Nach all den bestandenen Gefahren und Leiden, was für ein unglaublicher Glücksfall! Was war geschehen, und wo lag dieser Ort, zu dem er gelangt war? Entweder war er auf unerklärliche Weise auf Soldaten von Zeldas und Ged-la-Dans Armee gestoßen – die ja schließlich in den letzten sieben Tagen überallhin marschiert sein konnte –, oder es waren, was plausibler schien, Männer seiner eigenen Garde aus Bekla, die ihn und Shardik suchten, wie es ihnen aufgetragen worden war. Tränen der Erleichterung traten ihm in die Augen, und sein Blut wallte wie bei einer Liebesbegegnung. Als er sich erhob, sah er, daß das Licht stärker wurde: der Mond näherte sich dem Wolkenrand. Mit einem Aufschrei stolperte er den Hang bergab und schrie: »Ich bin Crendrik! Ich bin Crendrik!«
Er stand auf der Straße, einem zum Wald führenden, ausgetretenen Weg. Auch die auf dem Nachtmarsch befindlichen Soldaten benutzten offensichtlich diese Straße. Er würde bald ihre Lichter sehen, denn sie mußten ja Lichter tragen. Er strauchelte und fiel hin, rappelte sich aber sofort hoch und hastete, immer noch rufend, weiter. Er kam an den Fuß des Abhanges, blieb stehen und blickte in die eine und andere Richtung zwischen den Bäumen hoch.
Es herrschte Stille; keine Stimmen, keine Lichter. Er hielt den Atem an und horchte, doch von der Straße oben war kein Laut zu hören. Er rief laut: »Geht nicht fort! Wartet! Wartet!« Das Echo verhallte und erstarb.
Von dem freien Hang hinter ihm schallten angstvoll und zornig schreiende Stimmen herüber. Sie klangen merkwürdig entfernt, änderten sich ständig, verstummten und kehrten wieder, wie die Stimmen von Kranken, die von lang vergangenen Dingen zu erzählen versuchen. Im gleichen Augenblick wanderte der letzte Wolkenschleier vom Mond ab, das Gelände wurde in dunstiges Licht getaucht, und er erkannte den Ort, wo er war.
In einem Alptraum kann es vorkommen, daß man eine Berührung an der Schulter spürt, sich umdreht und dem starren, aber haßerfüllten Blick seines Todfeindes begegnet, von dem man weiß, daß er tot ist; oder daß man die Tür seines eigenen, vertrauten Zimmers öffnet und ein von Würmern wimmelndes Grab betritt; auch daß man das lächelnde Antlitz der Geliebten vor seinen Augen verfallen und verfaulen sieht, bis nur noch ihre grinsenden Zähne aus dem nackten, gelben Schädel starren. Was aber, wenn all diese Dinge – so unmögliche, so grausige Vorfälle, daß sie nur durch ein Höllenfenster erspäht werden
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