Sharon: die Frau, die zweimal starb
Sie gedieh prächtig. Darum habe ich nie die Behörden benachrichtigt. Dann wäre doch nur ein Sozialarbeiter aus der Stadt heruntergekommen, hätte Shirlee und Jasper einmal angesehen, sie für den Rest ihres Lebens in ein Heim gesteckt und Sharon zu Pflegeeltern gegeben. Papierkrieg und Bürokratie - sie wäre unter die Räder gekommen. Meine Methode war am besten.«
»Summa cum laude«, sagte ich und tippte auf das Foto. »So sieht es auch bestimmt aus.«
»Es war ein Vergnügen, sie zu unterrichten. Ich förderte sie intensiv, bis sie elf war, dann nahm ich sie in meiner Schule auf. Sie hatte sich so gut entwickelt, dass sie ihren Mitschülern tatsächlich voraus war - so gut, dass sie den Stoff der dritten Klasse durchnehmen konnte. Aber ihre gesellschaftlichen Fähigkeiten waren noch schwach - sie war schüchtern in Gegenwart von Kindern ihres Alters, gewohnt, mit Eric und Michael zu spielen, die noch in den Windeln lagen.«
»Wie haben sich die anderen Kinder ihr gegenüber verhalten?«
»Zuerst eher ablehnend. Es fielen grausame Bemerkungen, weil sie anders war, aber ich setzte dem sofort ein Ende. Richtig gesellig wurde sie auch später nie, sie war nicht das, was man ›allgemein beliebt‹ nennt, aber sie lernte es dann mit der Zeit doch, sich unter anderen Kindern zu bewegen, wenn es notwendig war. Als sie älter wurde, fingen die Jungen an, ihr Aussehen zu bemerken. Aber mit Jungen ließ sie sich nicht ein, sie war hauptsächlich daran interessiert, sich gute Noten zu verdienen. Sie wollte Lehrerin werden und etwas aus sich machen. Und sie war immer die Klassenerste - das hatte nicht nur etwas mit meiner Voreingenommenheit für sie zu tun, denn als sie nach Yucaipa kam und in die Junior High und die Highschool ging, erhielt sie immer nur die Note ›Sehr Gut‹, auch in den Nebenfächern, und beim Stipendientest gehörte sie zu den Besten in der Schule. Sie hätte sich überall immatrikulieren können, brauchte mich nicht, um in Forsythe aufgenommen zu werden. Sie gaben ihr eine volle Befreiung von den Studiengebühren und dazu ein Stipendium.«
»Wann hat sie ihren Entschluss, Lehrerin werden zu wollen, geändert?«
»Am Anfang ihres letzten Jahres auf dem College. Sie hatte als Hauptfach Psychologie gewählt. Wenn man an ihre Herkunft dachte, konnte man sich vorstellen, warum sie sich für die menschliche Natur interessierte - und das ist nicht abwertend gemeint. Aber sie sagte nie etwas darüber, dass sie tatsächlich Psychologin werden wollte, bis sie zu einer Beratung in die Long-Island-Universität ging. Da saßen dieVertreter mehrerer Berufe an verschiedenen Tischen, gaben Literatur aus und berieten die Studentinnen. Sie lernte dort einen Psychologen kennen, einen Professor, der sie sehr beeindruckte. Und offenbar beeindruckte sie ihn ebenfalls. Er sagte ihr, sie würde eine hervorragende Psychologin abgeben, er blieb dabei und bot ihr sogar an, sie zu fördern. Er zog gerade nach Los Angeles und garantierte ihr die Aufnahme in die psychologische Fakultät, wenn sie es wollte. Es war ein mächtiger Auftrieb für sie - dass sie nun sogar ihren Doktor machen könnte.«
»Wie hieß dieser Professor?«
»Das hat sie mir nie gesagt.«
»Sie haben sie nie gefragt?«
»Sie war immer ein geheimnisvoller Mensch, sie sagte mir das, was ich wissen sollte. Ich stellte fest, dass es die falscheste Methode war, sie zu fragen, wenn man etwas von ihr erfahren wollte. Wie wär’s mit noch einem Stück Apfelkuchen?«
»Vielen Dank, aber ich bin wirklich satt.«
»Na, ich nehme mir mal ein Stück. Ich bin süchtig nach etwas Süßem.«
Ich erfuhr in einer weiteren halben Stunde des Fotoalbumblätterns und Familienanekdotenerzählens nichts mehr. Ein paar Schnappschüsse zeigten Sharon - geschmeidig, lächelnd, schön als Kind, bezaubernd als Teenager, wie sie die Jungen bemutterte. Als ich mich darüber äußerte, sagte Helen Leidecker nichts.
Gegen neun waren wir beide in Verlegenheit. Wie zwei junge Leute, die bei ihrer ersten Verabredung weiter gegangen sind, als sie sollten, zogen wir uns voneinander zurück. Als ich ihr für ihre Mühe dankte, war sie darauf aus, mich herauszukomplimentieren. Ich verließ Willow Glen fünf Minuten darauf und war eine Dreiviertelstunde später wieder auf der Route 10.
Ich fand mich in Gesellschaft von Sattelschleppern, die landwirtschaftliche Produkte auslieferten, und von Tiefladeanhängern, die Baumstämme und Heu transportierten. Ich war müde und
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