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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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schlapp von zu viel Essen und versuchte, mich auf die Musik zu konzentrieren. Das machte mich noch schläfriger, und ich fuhr in der Nähe von Fontana auf einen Parkplatz, an dem eine Shell-Tankstelle und eine rund um die Uhr geöffnete Raststätte lagen.
    Drinnen waren abgestoßene graue Tresen, rote, mit Isolierband geklebte Vinylsitzecken, rotierende Ständer mit Krimskrams - und eine harte, lastende Stille. Ein paar Lastwagenfahrer mit breiten Rücken und ein hohläugiger Herumtreiber saßen am Tresen. Ich kümmerte mich nicht um die Blicke, die sie mir über die Schulter zuwarfen und setzte mich in eine Ecke, in der man die Illusion hatte, unbeobachtet zu sein. Eine magere Serviererin mit einem Portweinfleck auf der linken Wange füllte meine Tasse mit heißem Kaffee, und ich füllte meinen Kopf bis oben hin mit Fragen.
    Sharon, Königin der Irreführung, des Betrugs - ein Trugbild? Sie war buchstäblich aus dem Dreck hochgekommen, hatte »etwas aus sich gemacht« in Erfüllung von Helen Leideckers Pygmalion-Traum.
    Diesem Traum haftete etwas Egoistisches an - Helens Wunsch, ihre urbanen intellektuellen Fantasien durch Sharon wiederaufleben zu lassen. Deshalb war er nicht weniger echt. Und sie hatte eine bemerkenswerte Umwandlung vollbracht: ein wildes Kind gezähmt. Geschliffen und gefeilt, bis ein Ausbund an Bildung und guter Erziehung daraus geworden war. Klassenerste. Summa cum laude.
    Aber man hatte Helen nie alle Teile des Puzzles gegeben, sie hatte keine Ahnung davon, was in den ersten vier Lebensjahren Sharons gewesen war. In den Jahren, in denen der Mörtel der Identität gemischt, das Fundament des Charakters gelegt und gehärtet wird.
    Ich dachte noch einmal an die Nacht, in der ich sie mit dem Foto mit der stillen Partnerin gefunden hatte. Nackt. Regrediert zu der Zeit, als Helen sie entdeckt hatte.
    Der Wutanfall des zweijährigen Jungen fiel mir wieder ein.
    Frühes Trauma. Sich gegen den Horror abschotten.
    Welchen Horror?
    Wer hatte sie während der ersten drei Jahre ihres Lebens aufgezogen, die Lücke ausgefüllt zwischen Linda Lanier und Helen Leidecker?
    Nicht die Ransoms - sie waren zu dumpf, als dass sie ihr etwas über Wagen hätten beibringen können. Oder sprechen.
    Ich erinnerte mich der beiden, wie sie Gabriel und mir nachsahen, als wir ihren Dreckplatz verließen. Ihre einzige Erinnerung an die Elternschaft: ein Brief.
    Euer einziges kleines Mädchen.
    Sie hatte den gleichen Ausdruck benutzt, als sie von anderen Eltern erzählte. Bonvivants aus einem Stück von Noel Coward - Leuten, die nie existiert hatten - nicht in Manhattan, Palm Beach, Long Island oder L.A.
    Martinis im Sonnenzimmer.
    Wachspapierfenster.
    Die beiden Welten trennte ein galaktischer Abgrund - der unmögliche Sprung zwischen Wunschdenken und trostloser Realität.
    Sie hatte den Abgrund mit Lügen und Halbwahrheiten zu überbrücken, eine Identität aus den Fragmenten des Lebens anderer Leute zu fabrizieren versucht.
    Sich schließlich selbst in diesem Prozess verloren?
    Ihr Schmerz und ihre Scham müssen schrecklich gewesen sein. Zum ersten Mal seit ihrem Tod ließ ich es zu, wirkliches Mitleid für sie zu empfinden.
    Bruchstücke.
    Ein Park-Avenue-Schnipsel von einem hochwohlgeborenen Kruse.
    Eine Geschichte über den Verlust beider Eltern bei einem Autounfall aus der Biografie von Leland Belding.
    Damenhaftes Benehmen und Liebe zur Gelehrsamkeit von Helen Leidecker.
    Kein Zweifel, dass sie Helen zu Füßen gesessen und sich Geschichten darüber angehört hatte, wie die »faulen Reichen« sich draußen in den Hamptons benahmen. Hatte als Studentin in Forsythe Anschauungsunterricht genossen, indem sie an den Toren der ausgedehnten Strandbesitzungen vorbeigeschlendert war. Hatte Eindrücke gesammelt wie zerbrochene Meeresmuscheln, die es ihr erlaubten, mir ein allzu lebendiges Bild von Chauffeuren und Austernspritzern und zwei kleinen Kindern in einem Badehaus zu malen.
    Shirlee. Joan.
    Sharon Jean.
    Sie hatte die Geschichte von den ertrunkenen Zwillingen einmal so herum - Helen - erzählt und einmal anders mir, hatte die belogen, die sie angeblich so sehr liebte - mit derselben Leichtigkeit, wie sie sich das Haar bürstete.
    Pseudozwilling. Identitätsprobleme. Zwei kleine Mädchen, die Eis essen. Spiegelverkehrte Zwillinge.
    Pseudomultiple Persönlichkeit.
    Elmo Castlemaine war sicher, dass »Shirlee« verkrüppelt zur Welt gekommen war, was hieß, dass sie keines der Kinder sein konnte, die ich auf dem Foto mit dem

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