Sharon: die Frau, die zweimal starb
Jasper sahen zu und klatschten. Für sie war Sharon ein Spielzeug.
Ich fragte sie, ob ich das Kind ein paar Stunden mitnehmen dürfte. Sie waren, ohne zu zögern, einverstanden, obwohl sie mich noch nie vorher gesehen hatten. Keine Eltern-Kind-Bindung, obwohl sie deutlich über sie entzückt waren, sie vor mir sehr viel küssten und herzten.«
»Wie reagierte Sharon darauf, dass sie mitgehen sollte?«
»Sie war nicht glücklich, aber sie wehrte sich nicht dagegen. Sie mochte es vor allem nicht, als ich ihr eine Decke umzuhängen versuchte, um ihre Blöße zu bedecken. Seltsam, als sie sich erst einmal an Kleider gewöhnt hatte, wollte sie sie gar nicht mehr ausziehen, als ob das Nacktsein sie daran erinnerte, wer sie gewesen war.«
»Ich bin sicher, dass es so war«, sagte ich und dachte an die Liebe auf dem Rücksitz.
»Schließlich wurde sie eine ziemliche Modenärrin - sie saß dann da über meinen Zeitschriften und schnitt sich aus, was ihr gefiel. Sie mochte niemals Hosen, nur Kleider.«
Kleider aus den Fünfzigern.
Ich fragte: »Wie war es, als Sie sie zum ersten Mal zu sich nach Haus mitgenommen haben?«
»Sie erlaubte mir, sie bei der Hand zu nehmen, und kletterte hinauf in den Wagen, als hätte sie schon einmal in einem gesessen. Während der Fahrt versuchte ich, mit ihr zu reden, aber sie saß nur da und starrte aus dem Fenster. Als wir bei uns zu Haus ankamen, stieg sie aus, hockte sich in die Einfahrt und hinterließ einen Haufen. Als ich mein Erstaunen äußerte, war sie echt überrascht, als ob es völlig normal wäre, so etwas zu tun. Es war offenbar, dass man ihr keinerlei Grenzen gesetzt hatte. Ich brachte sie ins Haus, setzte sie auf die Kommode, wusch sie, kämmte ihr die Kletten heraus - in dem Augenblick fing sie an zu schreien wie am Spieß. Dann zog ich ihr eines von Mr. Leideckers alten Hemden an, setzte sie hin und gab ihr ein richtiges warmes Essen. Sie aß wie ein Holzfäller. Stand vom Stuhl auf und fing wieder an, sich hinzuhocken. Ich beförderte sie ins Badezimmer, auf die Toilette und brachte ihr bei, dass man auf Reinlichkeit achten muss. Das war der Anfang. Sie wusste, dass mir an ihr lag.«
»Aber sie hat fließend gesprochen?«
»Unregelmäßig, es war seltsam. Manchmal fließend ganze Sätze, und dann wusste sie wieder nicht, wie sie etwas Einfaches beschreiben sollte. Wenn sie müde oder ärgerlich war, fing sie an zu grunzen und zu gestikulieren wie Jasper. Aber nicht irgendeine Zeichensprache - ich habe American Sign gelernt, weder sie noch Jasper kannten sie, wenn ich sie ihm inzwischen auch ein bisschen beigebracht habe. Er hat seine eigene primitive Sprache - wenn er sich überhaupt die Mühe macht zu kommunizieren. Das ist die Umgebung, in der sie gelebt hat, bevor ich sie fand.«
»Von da zum Doktor der Psychologie«, sagte ich.
»Ich sagte Ihnen ja, dass es ein Wunder war. Sie lernte erstaunlich schnell. Vier Monate ständigen Drills, damit sie richtig sprechen lernte, noch einmal drei, in denen ich ihr das Lesen beibrachte. Sie war dafür prädestiniert: ein leeres Glas, das darauf wartete, dass jemand es füllte. Je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, umso klarer wurde es, dass sie nicht nur nicht zurückgeblieben, sondern im Gegenteil außerordentlich begabt war. Hochbegabt.«
Und vorher erzogen. Von jemandem, der ihr etwas über Wagen beigebracht hatte und ganze Sätze … dann Löcher in ihr Wissen von der Welt stanzte.
Helen hatte aufgehört zu sprechen, sie hielt die Hand an den Mund, atmete tief. »Alles umsonst.«
Sie sah auf die Wanduhr. »Es tut mir leid, ich muss jetzt gehen. Ich habe eine Mitfahrt bei Gabriel auf dem Rücksitz gebucht. Er hat mir einen Helm von seinem eigenen Geld gekauft - wie konnte ich es ihm abschlagen? Der arme Junge ist wahrscheinlich außer sich, denkt Gott weiß was.«
»Ich nehme Sie gern mit.«
Sie zögerte und sagte dann: »In Ordnung. Geben Sie mir ein paar Minuten zum Abschließen.«
30
Ihr Haus war groß, mit einem Giebeldach und Flutlicht und reichlich kitschigen weißen Verschnörkelungen und lag hinter einem großen, prächtigen Obstgarten in der Nähe der Straße. Gabriels Maschine war an der vorderen Veranda geparkt, neben einem alten Chevrolet-Lastwagen und einem Honda Accord. Sie führte mich zum Seiteneingang herum, und wir betraten das Haus durch die Küche. Gabriel saß am Tisch, wandte uns den Rücken zu, schälte Mais und hörte laute Rapmusik aus einem Gettoblaster, der nicht viel kleiner als der
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