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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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und fing an zu stimmen.
    Sie war in die Küche zurückgegangen und rief: »Kommen Sie hier herein, damit ich zuhören kann.«
    Ich brachte die Gitarre hin, setzte mich an den Tisch und fingerte ein paar Jazzakkorde, während sie Huhn, Kartoffelbrei, Mais, Bohnen und frische Limonade zubereitete. Die Gitarre hatte einen vollen, schönen Klang, und ich spielte »La Mer«, wobei ich Djangos flüssiges Zigeunerarrangement benutzte.
    »Sehr hübsch«, sagte sie, aber ich merkte, dass Jazz - selbst warm jazz - nicht nach ihrem Geschmack war. Ich zupfte eine Melodie, etwas Countryartiges in C-Dur, und ihr Gesicht wurde jung.
    Sie brachte das Essen zum Tisch - riesige Mengen. Ich legte die Gitarre weg. Sie ließ mich ans Kopfende der Tafel und setzte sich selbst zu meiner Rechten und lächelte nervös.
    Ich nahm den Platz eines Toten ein, hatte das Gefühl, dass etwas von mir erwartet wurde, ein Protokoll, das ich nie würde meistern können. Das und die zeremonielle Art, wie sie meinen Teller füllte, versetzte mich in eine melancholische Stimmung.
    Sie spielte mit ihrem Essen herum und beobachtete mich, während ich mich zum Essen zwang. Ich aß, so viel ich hinunterbringen konnte, machte ihr zwischendurch Komplimente und wartete, bis sie die Teller weggeräumt und Apfelkuchen gebracht hatte, bevor ich sagte:
    »Das Examensfoto, das die Ransoms verloren haben. Hat Sharon Ihnen eins gegeben?«
    »Oh, das.« Ihre Schultern fielen herab und ihre Augen wurden feucht. Ich kam mir vor, als hätte ich eine ertrinkende Überlebende ins eiskalte Wasser zurückgeworfen. Bevor ich etwas sägen konnte, sprang sie auf und verschwand in der Diele.
    Sie kam mit einem Foto im Format von zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimetern in einem kastanienbraunen, samtenen Stehrahmen zurück, reichte es mir, als teile sie das Sakrament aus, und sah mir zu, wie ich es betrachtete.
    Sharon strahlend mit karmesinroter Mütze und einem Talar mit Goldtroddel und Schultertresse, ihr schwarzes Haar länger, fließend über den Schultern, das Gesicht leuchtend und makellos. Der Inbegriff der amerikanischen Collegeabsolventin, die mit jugendlichem Optimismus in die Ferne sah.
    Stellte sie sich gerade eine rosige Zukunft vor? Oder war es nur die Idee eines Campusfotografen von dem, was stolze Eltern für den Kaminsims mochten?
    In der linken unteren Ecke stand in Goldbuchstaben:
    EPHEGIANS, ABSOLVENTEN VON 1974
FORSYTHE LEHRERINNENCOLLEGE
LONG ISLAND, N.Y.
    Ihre Alma mater?«, fragte ich.
    »Ja.« Sie setzte sich, hielt das Bild an den Busen. »Sie wollte immer Lehrerin werden. Ich wusste, Forsythe war die richtige Ausbildungsstätte für sie. Streng und Schutz gewährend genug, um den Schock abzufangen, den es für sie bedeutete, in die Welt hinauszugehen - die Siebzigerjahre waren eine schwierige Zeit, und sie hatte ein behütetes Leben geführt. Es gefiel ihr sehr gut dort, sie bekam lauter glatte ›Sehr Gut‹ und absolvierte die Anstalt am Ende summa cum laude .«
    Besser als Leland Belding … »Sie war sehr intelligent«, sagte ich.
    »Sie war glänzend begabt, Alex. Obwohl ihr manche Dinge zuerst schwerfielen - die Sauberkeit und alles Gesellschaftliche. Aber ich gab einfach nicht nach und hielt durch - gute Vorbereitung für mich auf meine Jungens später. Aber alles, was mit Intelligenz zu tun hatte, sog sie auf wie ein Schwamm.«
    »Wie sind Ihre Jungen mit ihr zurechtgekommen?«
    »Keine Geschwisterrivalität, wenn Sie das meinen. Sie war sanft zu ihnen, liebevoll wie eine ganz tolle ältere Schwester. Und sie stellte für die Jungen keine Bedrohung dar, weil sie jeden Abend nach Haus ging - am Anfang war das schwer für mich. Ich hätte sie so gern ganz zu mir genommen und ein normales Leben führen lassen. Aber auf ihre Art liebten Shirlee und Jasper sie auch, und sie hing an ihnen. Es wäre nicht richtig gewesen, das zu zerstören und den beiden das einzig Wertvolle zu nehmen, das sie besaßen. Irgendwie hatte man ihnen ein Juwel überlassen. Mein Job war es, ihr den nötigen Schliff zu geben und sie zu beschützen. Ich brachte ihr bei, wie eine Dame sich benimmt, schenkte ihr hübsche Sachen - ein hübsches Himmelbett, aber ich ließ es dort, bei ihnen.«
    »Sie hat nie eine Nacht bei Ihnen verbracht?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nach Haus geschickt. Das war am besten.«
    Jahre später, mit mir, schickte sie sich selbst nach Hause. Frühe Angewohnheiten … frühe Traumata …
    »Sie war glücklich, so wie die Dinge waren, Alex.

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