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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Durchschnittsnote »sehr gut«, die wissen wollten, ob die Schinderei sich überhaupt lohnte.
    »Hallo, ich bin Dr. Delaware.« Ich ließ den Titel mit Genuss von der Zunge rollen, auch mit etwas schlechtem Gewissen, weil ich mir wie ein Hochstapler vorkam. Die Studenten sahen mich von oben bis unten an, keineswegs beeindruckt. »Alex«, fügte ich hinzu. »Dr. Kruse kann nicht kommen, also übernehme ich es heute Abend.«
    »Wo ist Paul?«, fragte eine Frau Ende zwanzig. Sie war klein, mit früh ergrautem Haar, Omabrille und einem zusammengepressten, missbilligenden Mund.
    »Er ist nicht in der Stadt.«
    »Hollywood liegt doch in der Stadt«, sagte ein großer, bärtiger Mann mit einem großkarierten Hemd und Overall, der eine dicke dänische Bruyèrepfeife rauchte.
    »Sie sind ein Assistent von ihm?«, fragte die grauhaarige Frau. Sie war attraktiv, sah aber verkniffen aus, mit wütenden, nervösen Augen, eine Puritanerin im blauen Overall, starrte mich abschätzig an, erweckte den Eindruck, als ob sie gern andere Leute verurteilte.
    »Nein. Ich habe ihn noch nie gesehen. Ich bin -«
    »Ein neues Fakultätsmitglied!«, proklamierte der Bärtige, als decke er eine Verschwörung auf.
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade erst letzten Juni meinen Doktor gemacht.«
    »Gratuliere.« Der Bärtige klatschte lautlos. Ein paar von den anderen ahmten ihn nach. Ich lächelte, hockte mich hin und nahm eine Lotusstellung nah der Tür ein. »Was machen Sie denn hier üblicherweise?«
    »Fälle werden vorgestellt«, sagte eine Schwarze. »Wenn nicht einer gerade in einer Krise steckt, die wir hier durchsprechen können.«
    »Steckt irgendwer gerade in einer Krise?« Schweigen. Gähnen.
    »Also gut. Wer ist dran mit dem Vorstellen?«
    »Ich«, sagte die Schwarze. Sie war untersetzt, mit einem hennaroten Afrohaarputz, der ihr rundes schokoladenfarbenes Gesicht wie ein Heiligenschein umgab. Sie trug einen schwarzen Poncho, Bluejeans und rote Lackstiefel. Eine übergroße Tasche aus Teppichstoff lag quer auf ihrem Schoß. »Aurora Bogardus, zweites Studienjahr. Letzte Woche habe ich den Fall eines neunjährigen Jungen vorgestellt, der an nervösen Zuckungen leidet. Paul machte Vorschläge. Ich habe den Fall weiterverfolgt.«
    »Bitte.«
    »Um es gleich vorwegzunehmen, nichts hat gewirkt. Es wird schlimmer mit dem Kind.« Sie zog einen Notizblock aus ihrer Teppichtasche, blätterte, wiederholte noch einmal für mich die Geschichte des Falles und beschrieb dann ihren ersten Behandlungsplan, der gut überlegt wirkte, aber nicht angeschlagen hatte.
    »Damit wären wir beim heutigen Stand«, sagte sie. »Irgendwelche Fragen?«
    Zwanzig Minuten Diskussion folgten. Die Studenten gingen auf die sozialen Faktoren ein - die Armut der Familie und die häufigen Umzüge, die Angst, die das Kind wahrscheinlich durchmachte, weil es keine Freunde hatte. Jemand sagte, die Tatsache, dass es als schwarzes Kind in einer rassistischen Gesellschaft leben müsse, sei ein bedeutender Stressfaktor.
    Aurora Bogardus wirkte angewidert. »Das ist mir durchaus klar. Aber trotzdem muss ich mich mit den verdammten Zuckungen als Verhaltensstörung auf einer behavioristischen Ebene beschäftigen. Je mehr er zuckt, umso wütender werden alle auf ihn.«
    »Dann müssen es eben alle lernen, mit dieser Wut umzugehen«, sagte der Bärtige.
    »Schön und gut, Julian«, sagte Aurora. »Inzwischen wird das Kind geächtet, ausgestoßen, verbannt, und ich muss dafür sorgen, dass etwas dagegen geschieht.«
    »Das effektive Konditionierungssystem -«
    »Wenn du zuhören würdest, Julian, hättest du mitbekommen, dass das effektive Konditionierungssystem nicht funktioniert hat. Auch nicht die Rollenmanipulationen, die Paul letzte Woche vorgeschlagen hat.«
    »Was für Rollenmanipulationen?«, fragte ich.
    »Eine Veränderung der Programmierung. Es ist ein Teil seines therapeutischen Ansatzes - Kommunikationsdynamik. Die Familienstruktur durchschütteln, die Familienmitglieder dazu bringen, dass sie ihre Machtpositionen untereinander verändern, sodass sie für neue Verhaltensweisen offen sind.«
    »Wie sollen sie sich verändern?«
    Sie warf mir einen müden Blick zu. »Paul hat mir vorgeschlagen, ich soll die Eltern und Geschwister dazu bringen, dass sie auch zu zucken und zu zittern anfangen. Übertrieben stark. Er sagte, sobald das Symptom Teil der Familiennorm würde, verlöre es für den Jungen den Rebellionswert, und dann würde er es aus seinem

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