Sharon: die Frau, die zweimal starb
Dollar monatlich, und das Finanzamt hatte gerade festgestellt, dass das ein steuerpflichtiges Einkommen war. Es blieb kaum genug übrig für Miete und Nebenkosten eines schmuddeligen Junggesellenapartments an der Overland Avenue, allerbilligste Lebensmittel, Kleidung aus dem Discount, Bücher aus Trödelläden und den Unterhalt eines todkranken Nash Rambler. Gar nicht zu denken war an die Rückzahlung meiner Studiendarlehen aus acht Jahren und anderer unter Verschiedenes schon allzu lange abgehefteter Mahnungen. Ein paar Banken machten sich ein Vergnügen daraus, mir monatlich ihre Erinnerungen zu schicken.
Um nebenbei Geld zu verdienen, spielte ich nachts bei Tanzkapellen Gitarre, womit ich mich schon in San Francisco über Wasser gehalten hatte. Unregelmäßige Arbeit mit gelegentlicher Löhnung und Essen an der Bar, so viel ich zwischen den Auftritten hinunterbekommen konnte. Ich ließ auch die Psychologische Fakultät an der Uni wissen, dass ihr berühmter Doktor für freiberufliche Unterrichtstätigkeit zur Verfügung stand.
Die Fakultät ignorierte mich bis zu einem Nachmittag im November, als eine ihrer Sekretärinnen meinen Namen über die Sprechanlage des Hospitals ausrufen ließ.
»Dr. Delaware bitte.«
»Hier ist Dr. Delaware.«
»Alice Delaware?«
»Alex.«
»Oh. Hier steht Alice. Ich dachte, Sie wären eine Frau.«
»Als ich letztes Mal nachgesehen habe, nicht.«
»Ich glaub’s Ihnen ja. Jedenfalls - das ist hier was ganz Kurzfristiges, aber wenn Sie heute Abend um acht Uhr Zeit haben, könnten wir Sie brauchen.«
»Ver-brauchen.«
»Wollen Sie nicht hören, worum es geht?«
»Warum nicht?«
»Okay, wir brauchen jemanden zur Beaufsichtigung von Kurs 305A - das klinische Praktikum für die graduierten Studenten im ersten und zweiten Jahr. Der Professor, der ihn leitet, wurde aus der Stadt abberufen, und keiner der üblichen Ersatzleute steht zur Verfügung.«
Bei mir war der Groschen gefallen. »Ja, gut, einverstanden.«
»Okay Sie haben eine Zulassung, nicht wahr?«
»Erst ab dem nächsten Jahr.«
»Ach. Dann weiß ich nicht recht … Warten Sie bitte.« Einen Augenblick später: »Okay. Weil Sie keine Zulassung haben, ist die Bezahlung acht Dollar statt fünfzehn und wird einbehalten. Und dann müssen Sie zuerst mal ein paar Papiere ausfüllen.«
»Sie haben mich reingelegt.«
»Bitte?«
»Ich komme.«
Das klinische Praktikum ist eine Verbindung von Theorie und Praxis; eine Methode, um Seelenklempner, die sich in der Ausbildungsphase befinden, an den psychotherapeutischen Alltag zu gewöhnen.
Bei meiner Alma Mater begann der Prozess früh: Schon in ihrem ersten Semester wurden die graduierten Studenten der klinischen Psychologie Patienten zugeteilt - Studenten, die der psychologische Beratungsdienst der Universität ihnen schickte, und arme Leute, die die kostenlose Behandlung an der Universitätsklinik in Anspruch nahmen. Die graduierten Studenten stellten ihre Diagnosen und behandelten die Patienten unter Aufsicht eines Fakultätsmitglieds. Einmal in der Woche zeigten sie, was sie an Fortschritten erzielt oder nicht erzielt hatten, den anderen graduierten Studenten und den Lehrkräften. Manchmal blieb es auf einer intellektuellen Ebene. Manchmal wurde es persönlich.
Psychologie 305A fand in einem fensterlosen Dachgeschoss im zweiten Stock des Gebäudes im Tudorstil statt, in dem das klinische Programm untergebracht war. In diesem Raum gab es kein Mobiliar, er war graublau gestrichen und mit einem fusseligen goldgelben Teppich ausgelegt. In einer Ecke standen ein paar schaumgummigepolsterte Baseballschläger von der Art, wie sie die Eheberater für gute, saubere Streitereien empfehlen. In einer anderen lagen in einem Haufen die Reste eines demontierten alten Lügendetektors.
Ich kam fünf Minuten zu spät. »Ein paar Papiere ausfüllen« hatte sich als ein Berg von Formularen herausgestellt. Sieben oder acht Studenten waren schon da. Sie hatten sich die Schuhe ausgezogen und saßen, standen und lagen entlang der Wände, schwatzten, rauchten oder machten gerade ein Nickerchen. Mich beachteten sie nicht. Der Raum roch nach ungewaschenen Socken, Tabak und Moder.
Zum größten Teil sahen sie wie ältere, gereiftere Semester aus - Flüchtlinge aus den Sechzigern in Ponchos, verwaschenen Jeans, Sweatshirts und mit indianischem Schmuck behängt. Ein paar trugen Straßenanzüge. Alle sahen sie ernst aus und als ob sie an einer schweren Last trügen - Studenten mit der
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