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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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und sagte: »Hier.«
    Sie starrte mich an.
    »Das ist Dr. Delaware«, sagte Julian. »Alex. Er hat die Riten und Rituale des Fachbereichs erduldet und ist ihnen offenbar unversehrt entkommen.«
    Sie gab ein flüchtiges Lächeln von sich, setzte sich neben mich und zog die Beine unter sich. Ein Streifen ihres weißen Schenkels wurde sichtbar. Sie zog das Kleid über die Knie. Dadurch lag es enger über den Brüsten und betonte deren Fülle. Ihre Augen waren breit und strahlten mitternachtsblau, so dunkel, dass die Pupillen mit der Iris verschmolzen.
    »Tut mir leid, dass ich zu spät komme«, sagte sie. Eine süße, samtweiche Stimme.
    »Also, was gibt’s sonst noch Neues?«, fragte Grauhaar.
    »Noch weitere Fälle zu besprechen?«, fragte ich.
    Niemand antwortete.
    »Dann, nehme ich an, können wir zu neuem Material übergehen.«
    »Was ist mit Sharon?«, fragte der Pferdeschwanz und grinste die Neuangekommene an. »Du hast dich das ganze Semester noch nicht mitgeteilt, Sharon.«
    Das schwarzhaarige Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich habe wirklich nichts vorbereitet, Walter.«
    »Was braucht man da vorzubereiten? Nimm einfach irgendeinen Fall, und lass uns von deiner Weisheit profitieren.«
    »Oder wenigstens von Pauls Weisheit«, sagte Julian.
    Gekicher, zustimmendes Nicken.
    Sie zog an ihrem Ohrläppchen, wandte sich an mich und suchte Hilfe.
    Der Witz über Kruse erklärte vielleicht die Spannung, die bei ihrem Eintreten aufgekommen war. Was auch immer seine therapeutischen Fähigkeiten bei der Rollenmanipulation sein mochten, dieser Dr. Kruse hatte es zugelassen, dass seine Gruppe von einer Günstlingswirtschaft vergiftet worden war. Aber ich als angeheuerte Hilfskraft hatte damit nichts zu schaffen.
    Ich fragte sie: »Haben Sie in diesem Semester überhaupt schon einen Fall vorgestellt?«
    »Nein.« Alarmiert.
    »Haben Sie irgendeinen Fall, über den Sie gern diskutieren würden?«
    »Ich … ich glaube ja.« Sie warf mir einen eher mitleidigen als vorwurfsvollen Blick zu: Sie tun mir weh, aber das ist nicht Ihre Schuld.
    Ein bisschen verunsichert sagte ich: »Dann fangen Sie bitte an.«
    »Die Frau, über die ich sprechen könnte, kommt seit zwei Monaten. Sie ist eine neunzehnjährige Studentin im zweiten Jahr. Erste Tests zeigen, dass sie in jeder Hinsicht im Normalbereich liegt, nur ihre MMP-Depressionsskala ist etwas über dem Durchschnitt. Ihr Freund ist im vierten Studienjahr. Sie haben sich in der ersten Semesterwoche kennengelernt und gehen seither miteinander. Sie hat sich an das studentische Beratungszentrum gewandt wegen ihrer Probleme in ihrem Verhältnis -«
    »Was für eine Art von Problemen?«, fragte Grauhaar.
    »Ein Kommunikationszusammenbruch. Am Anfang konnten sie miteinander reden. Später fingen die Dinge an sich zu verändern. Jetzt ist es ziemlich schlimm mit ihnen.«
    »Drück dich mal genauer aus«, sagte Grauhaar.
    Sharon dachte nach. »Ich bin nicht sicher, was du -«
    »Ficken sie?«, fragte Pferdeschwanz Walter.
    Sharon wurde rot und sah auf den Teppich hinunter. Ein altmodisches Erröten - ich hatte nicht gedacht, dass es das noch gab. Einige der Studenten sahen ihretwegen peinlich berührt drein. Die anderen schienen es zu genießen.
    »Ja oder nein?«, fragte Walter. »Ficken sie?«
    Sie biss sich auf die Lippe. »Sie haben Beziehungen, ja.«
    »Wie oft?«
    »Ich habe es wirklich nicht so genau verfolgt -«
    »Warum nicht? Es könnte ein wichtiger Parameter ihrer -«
    »Augenblick«, sagte ich. »Geben Sie ihr Gelegenheit, zu Ende zu sprechen.«
    »Sie wird nie zu Ende sprechen«, sagte Grauhaar. »Wir haben das schon früher durchexerziert - terminale Abwehr. Wenn wir das nicht klar ansprechen und es ausrotten, wo es wächst, werden wir uns die ganze Sitzung lang im Kreis herumbewegen.«
    »Es gibt nichts anzusprechen«, sagte ich. »Lassen wir sie die Tatsachen aussprechen. Dann diskutieren wir darüber.«
    »Richtig«, sagte Grauhaar. »Wieder hat sich ein Beschützer gemeldet - du bringst es in ihnen heraus, Prinzessin Sharon.
    »Langsam, Maddy«, sagte Aurora Bogardus. »Lass sie reden.«
    »Sicher, sicher.« Grauhaar verschränkte die Arme über der Brust, lehnte sich zurück, starrte sie an und wartete.
    »Bitte«, sagte ich zu Sharon.
    Sie hatte schweigend dagesessen, in ihren Gedanken fern dem Streit wie eine Mutter, die sich aus einem Gezänk zwischen Geschwistern heraushält. Nun fuhr sie dort fort, wo sie aufgehört hatte. Ruhig. Oder am Rande der

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