Sharon: die Frau, die zweimal starb
Auftragsdienst an - eine unpersönliche Maschine wäre für den alten Alex nicht in Frage gekommen. Wieder keine Nachricht.
Ich zog mich bis auf die Shorts aus, nahm die Los Angeles Times und eine Tasse Pulverkaffee und legte mich ins Bett.
Wenig Neues in der Zeitung, das meiste hatte schon am Morgen dringestanden, zweiter Aufguss. Ich stopfte mich mit dem ganzen Schwindel und den tausend Ausflüchten voll. Die Zeilen verschwammen mir allmählich vor den Augen. Wunderbar, genau das Richtige.
Dann gingen mir bei einer Story auf Seite zwanzig die Augen auf.
Es war nicht mal eine Story, nur ein Füllsel: ein paar Zeilen neben dem Bericht eines Nachrichtendienstes über die soziologische Struktur der südamerikanischen Feuerameisen.
Aber die Titelzeile sprang mir ins Auge.
TOD DER PSYCHOLOGIN: SELBSTMORD?
Von Maura Bannon, eig. Bericht
Los Angeles. Wie die Polizei erklärte, rührte der Tod der heute früh in ihrem Haus in Hollywood Hills aufgefundenen Psychologin wahrscheinlich von einer selbst beigebrachten Schussverletzung her.
Der Leichnam von Sharon Ransom, 34, wurde heute Morgen im Schlafzimmer ihres Hauses im Nicolas Canyon entdeckt. Sie war offenbar irgendwann im Laufe der Sonntagnacht gestorben.
Ransom lebte allein in ihrem Haus am Jalmia Drive, in dem sie auch ihre Praxis hatte. Sie stammte aus New York City, studierte später in Los Angeles und erwarb 1981 ihren Doktortitel. Angehörige konnten nicht ermittelt werden.
Sonntagnacht. Nur ein paar Stunden nachdem ich sie angerufen hatte.
Etwas Kaltes, Übelriechendes wie Faulschlammgas stieg aus meinen Gedärmen auf, und die Blasen blubberten in meinem Hals. Ich zwang mich, den Artikel noch einmal zu lesen. Und noch einmal.
Nur ein paar Zeilen. Ein Lückenfüller … Ich dachte an das schwarze Haar, die blauen Augen, das blaue Kleid, die Perlen. Das bemerkenswerte Gesicht - so warm, so lebendig.
Du bist der einzige Mensch, dem ich nichts vorzumachen brauche. Nein, es ist mir nicht gut ergangen. Überhaupt nicht.
Ein Hilferuf? Die angedeutete Vertraulichkeit hatte mich geärgert. Hatte mich daran gehindert, ihn wahrzunehmen.
Sie war mir doch gar nicht so verwirrt oder unglücklich vorgekommen.
Und warum hatte sie sich ausgerechnet mich ausgesucht? Was hatte sie in jenem Augenblick in mir gesehen, über all die Schultern der fremden Leute hinweg, das sie auf den Gedanken brachte, ich wäre der Richtige, an den sie sich wenden könnte?
Großer Fehler von ihr … der alte Alex auf seine eigenen Bedürfnisse fixiert, weiche weiße Schenkel und Brüste wie Kissen, um sich darauf auszuruhen.
Nein, es ist mir nicht gut ergangen. Überhaupt nicht.
Es tut mir leid, das zu hören.
Mitleid aus dem Automaten nur gegen Rechnung.
Ich hatte sie eingeholt, an mich gezogen. Einen feuchten Dreck hatte ich mir aus ihren Problemen gemacht. Das Machtgefühl hatte ich genossen, als sie so auf mich zukam und wehrlos war.
Wenn dir so viel daran liegt, können wir uns treffen und reden … und lass mich dir die Ohren abvögeln.
Es liegt mir sehr viel daran.
Ich riss die Seite aus der Zeitung heraus, zerknüllte sie und warf sie durchs Zimmer.
Ich schloss die Augen und versuchte zu weinen. Um sie, um mich, um Robin. Um Familien, die auseinanderfielen, um eine Welt, die auseinanderfiel. Kleine Jungen, die ihre Väter sterben sahen. Jeden auf der Welt, der es verdammt verdiente.
Die Tränen wollten nicht kommen.
Warte auf den Pieper.
Drück auf den Abzug.
6
Später, als der Schock etwas nachließ, fiel mir ein, dass ich sie schon einmal gerettet hatte. Vielleicht hatte sie daran gedacht und sich eine eigene Zeitmaschinenfantasie zusammengereimt.
Herbst 1974. Ich war vierundzwanzig, hatte gerade meinen Doktor gemacht und genoss es, dass man mich mit dem Titel anredete, obwohl ich noch immer so arm wie als Student war.
Ich war gerade vom Langley Porter Institute in San Francisco nach Los Angeles zurückgekehrt, um mein Forschungsstipendium am Western Pediatric Hospital zu beginnen. Ich betitelte mich zungenbrecherisch »National Institute for Mental Health, Dozent für klinische Psychologie und geistige Entwicklung« und arbeitete zugleich im Hospital und in der damit verbundenen medizinischen Fakultät. Mein Job bestand darin, Kinder zu behandeln, Assistenzärzte auszubilden, Forschung zu treiben und ein, zwei schriftliche Arbeiten zu verfassen, unter die der Chefpsychologe seinen Namen als Coautor setzen konnte.
Mein Gehalt belief sich auf fünfhundert
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