Sharras Exil
der Krankenhausumgebung, mein wieder erwachtes Entsetzen bei der Erinnerung an das terranische Hospital und den vergeblichen Versuch, meine Hand zu retten, mich daran gehindert hatte, das einzig Richtige zu tun. Ich hätte mit Dios Geist in Rapport bleiben, sie telepathisch von Augenblick zu Augenblick begleiten sollen, auch wenn es mir verboten war, körperlich in ihrer Nähe zu sein. Ich hatte sie im Stich gelassen, und nun war mir schrecklich zu Mute.
Ich versuchte, meine wachsenden Sorgen zu verbannen. In wenigen Stunden würden wir einen Sohn haben. Ich hätte irgendwann im Laufe dieses endlosen Tages meinen Vater anrufen können. Er wäre sofort ins Krankenhaus gekommen, um mir Gesellschaft zu leisten. Nun, ich würde ihn benachrichtigen, sobald unser Sohn geboren war.
Konnte ich meinem Sohn ein solcher Vater werden, wie es Kennard mir gewesen war? Er hatte endlose Kämpfe geführt, damit ich vom Rat anerkannt wurde, hatte versucht, mich vor Beleidigungen und geringschätziger Behandlung zu schützen, hatte mir alle Rechte und Pflichten eines Comyn-Sohns verschaffen wollen. Ich hoffte, ich würde zu meinem Sohn nicht so hart sein müssen wie mein Vater zu mir, würde weniger Grund dazu haben. Doch jetzt verstand ich ein wenig die Ursache seiner Strenge.
Wie sollten wir den Jungen nennen? Ob Dio etwas einwandte, wenn ich den Wunsch aussprach, ihm den Namen Kennard zu geben? Mein eigener Name lautete Lewis-Kennard; der ältere Bruder meines Vaters hatte Lewis geheißen. Kennard-Marius nach meinem Vater und meinem Bruder? Oder zog Dio es vor, ihn nach einem ihrer Brüder zu nennen, vielleicht Lerrys nach ihrem Lieblingsbruder? Lerrys hatte sich mit mir gestritten, es mochte ihm nicht recht sein, dass meinem Sohn sein Name gegeben wurde … Ich spielte mit diesen Gedanken, um meine eigene Verzweiflung zu beschwichtigen, meine immer stärker werdende Unruhe über diese Verzögerung – warum sagte mir niemand etwas?
Vielleicht sollte ich jetzt gehen – in der Eingangshalle des Krankenhauses war ein Kommunikator-Schirm – und Kennard anrufen, ihm sagen, wo ich war und was sich ereignete. Er würde es wissen wollen, und in diesem Augenblick kam mir zu Bewusstsein, dass ich mich nach seiner Gesellschaft sehnte. Was würde er denken, fragte ich mich, wenn er die junge Krankenschwester Kathie erblickte, die Linnell so ungeheuer ähnlich sah? Vielleicht entdeckte er die Ähnlichkeit gar nicht, vielleicht war ich so aufgedreht, dass sich eine leichte Ähnlichkeit für mich in eine Beinahe-Identität verwandelt hatte. Schließlich haben die meisten jungen Mädchen irgendwo ein Grübchen und an einer anderen Stelle eine kleine Narbe. Auch ist es nicht ungewöhnlich für eine junge Frau terranischer Abstammung – und ob es uns passt oder nicht, Darkover ist von einer rassisch einheitlichen Gruppe besiedelt worden, was Ursache unserer starken ethnischen Ähnlichkeit ist –, braunes Haar, blaue Augen, ein herzförmiges Gesicht und eine wohllautende Stimme zu haben. Meine eigene Erregung hatte alles Übrige beigesteuert und übertrieben. Wahrscheinlich war sie Linnell überhaupt nicht ähnlich, und bestimmt würde ich es erkennen, wenn ich sie einmal, was höchst unwahrscheinlich war, nebeneinander stehen sah …
Möglicherweise lag es an meiner eigenen Erschöpfung, an meinem Kampf gegen den Schlaf. Eine Minute lang kam es mir vor, als sähe ich sie wirklich Seite an Seite stehen, Linnell in ihrem Festgewand, und irgendwie wirkte Linnell älter, vergrämt, und seltsam, Kathie trug ebenfalls darkovanische Kleidung … und hinter ihnen wallte Dunkelheit …
Auf ein leises Geräusch hin drehte ich mich um und bemerkte die junge Krankenschwester, die Linnell so ähnlich sah … ja, so war es tatsächlich, es war keine Illusion. Nachdem ich Linnells Bild vor meinem geistigen Auge heraufbeschworen hatte, war ich sicherer als zuvor.
Ah, jetzt zu Hause sein, in den Bergen um Armida, mit Marius und Linnell über diese Berge reiten! Der alte terranische Coridom Andres drohte uns immer Prügel an, weil wir mit so halsbrecherischer Geschwindigkeit ritten. Marius und ich zerrissen uns die Hosen dabei, und Linnells flatterndes Haar verfilzte sich so, dass ihre Gouvernante es gar nicht mehr auskämmen konnte … Inzwischen war Linnell wahrscheinlich mit Prinz Derik verheiratet, und Derik war gekrönt, so dass meine Pflegeschwester Königin war …
»Mr. Montray?«
Ich fuhr herum. »Was ist? Dio? Das Kind? Ist alles in Ordnung?«
Weitere Kostenlose Bücher