Sheriff Tod
als stünde er unter einer ungeheuren Anspannung.
Immer wieder blieb er am Fenster stehen und schaute hinaus in die anbrechende Dunkelheit. Er wollte einen bestimmten Zeitpunkt abwarten und sein Versteck dann erst verlassen. Die Luft war klar. Weder Dunst noch Nebelstreifen nahmen ihm die Sicht, wenn er durch das obere Fenster weit hinein in das Land schaute. Die Berge in der Ferne interessierten ihn nicht. Sie standen da wie klotzige Aufpasser und glühten tagsüber in der Sonne. In der Nacht wurden sie dunkel und fremd wie schlafende Riesen, die auf eine Ebene schauten und auf ein Band, das diese Ebene durchschnitt.
Es war wie ein Streifen, über den hin und wieder Wesen mit zwei hellen Augen huschten.
Es war der Highway.
Tag und Nacht befahren, in der Nacht weniger. Er führte durch ein von der Formation her unterschiedliches Gelände, senkte sich mal in Täler hinein und führte auch über Hügel hinweg, wie eine sich in die Unendlichkeit erstreckende Sinuskurve.
Sein Jagdrevier.
Auch in dieser Nacht.
Der Schatten am oberen Fenster verschwand. Es dauerte nicht sehr lange, bis sich die Tür bewegte. Sie schwang sehr langsam nach innen und hinterließ dabei ein leises Knarren.
Dann zeichnete sich die Gestalt im offenen Ausschnitt ab.
Groß, dunkel, drohend und breitbeinig stehend, wie ein Westernheld, der bereit war, seine Waffe zu ziehen.
Die Gestalt öffnete den Mund. Sie schmeckte die Luft, prüfte sie, sie roch den Staub, aber sie roch auch das nahe Blut.
Die Tür schwang zu.
Die Gestalt ging einen Schritt nach vorn.
Von nun an war Sheriff Tod wieder auf Beutezug!
***
»Fahrn, fahrn, fahrn, auf der Autobahn«, sang Tina einen alten deutschen Schlager vor sich hin, und sie sah, wie ihr Freund den Kopf schüttelte.
»Wir fahren nicht auf der Autobahn zwischen Köln und Frankfurt, wir sind hier auf dem Highway, mitten in Kansas, huschen wie Gespenster durch die Nacht und fressen Meile um Meile. Ist das nicht toll?« Er drehte ihr den Kopf zu, grinste, und im Licht der Armaturenbeleuchtung hatte sein Gesicht einen grünlichen Schimmer bekommen, so daß Tina erschreckte, weil sie für einen Moment an einen Totenschädel gedacht hatte.
Marcus hatte dies wohl bemerkt. »He, was schaust du mich so an?«
»Nichts.«
»Doch.«
»Okay, du hast recht.«
»Womit?«
»Mit dem Highway.«
»Klar habe ich das. Dreh mal am Sendersuchlauf. Du kriegst hier weder den SWF 3 noch Hessen 3. Aber dafür hören wir John Denver und Johnny Cash, wann immer du willst.« Er lachte und schlug mit den Handflächen gegen den Lenkradring. »Von so etwas habe ich schon lange geträumt. Hier in den Staaten durch den Westen zu fahren und mir dabei vorzustellen, ich säße auf einem alten Planwagen, der mich nach Kalifornien schaukelt, durch Wüsten, Flüsse und über Berge, immer die Gefahr im Nacken, nicht wissend, ob die Indianer nun angreifen oder nicht. Das ist doch einfach super, ist das.«
Tina zeigte wenig Verständnis für die Träumereien ihres Freundes.
»Vergiß nie, daß es die Weißen waren, die den Indianern das Land nahmen. Die haben sich nur gewehrt.«
»Ist mir klar. Aber trotzdem finde ich es romantisch. Schau nur nach vorn, selbst bei der Dunkelheit ist die Unendlichkeit der Landschaft zu sehen. Ich habe das Gefühl, daß sie fließt, daß sie immer in Bewegung ist und sich allmählich dem Horizont nähert, während dieser immer weiter zurückweicht, weil es ihn ja eigentlich nicht gibt.«
»Na ja…«, murmelte Tina.
»Kannst du nicht nachvollziehen, wie?«
»Nein.«
»Was denkst du denn?«
Sie reckte sich und stellte die Musik etwas leiser, weil sie nicht so laut sprechen wollte. »Ich finde Amerika auch toll, aber nicht bei Dunkelheit.«
»Was hast du gegen die Nacht, Tina? Sie gehört ebenso zum Leben wie der Tag.«
»Es mag daran liegen, daß ich friere.«
»Dann stell die Anlage an deiner Seite höher, und alles ist wieder in Ordnung.«
»Herrlich, du bist so praktisch.«
»Wie soll ich das denn wieder verstehen?«
Tina überlegte sich die Antwort genau, weil es schwer war, ihr Gefühl in Worte zu fassen. »Weißt du, es ist bei mir kein körperliches Frieren, das ist etwas ganz anderes. Ich kann es dir schlecht erklären, es dringt aus meinem Innern hervor, aus meiner Seele, wenn du so willst. Kannst du das nachvollziehen?«
»Nein.«
»Eben.«
»Was heißt eben?«
»Ich fühle mich unwohl.«
Der junge Mann ging vom Gas. »Unwohl?« murmelte er. »Kannst du mir einen Grund nennen?
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