Sherlock Holmes - Das Tal der Furcht
gestern nacht ein Mann, der alt genug ist, Ihr Vater zu sein, so zusammengeschlagen wurde, daß ihm das Blut aus den weißen Haaren tropfte? War das ein Verbrechen, oder wie wollen Sie es sonst nennen?«
»Es gibt Leute, die es als Kampf bezeichnen«, sagte McMurdo, »ein schonungsloser Klassenkampf, wo jeder zuschlägt, so gut er eben kann.«
»Nun gut, haben Sie an solche Dinge gedacht, als Sie sich den Freimaurern in Chicago angeschlossen haben?«
»Nein, ich muß zugeben, daß ich das nicht tat.«
»Und ich habe ebenfalls nicht daran gedacht, als ich der Loge in Philadelphia beitrat. Das war einfach ein Club, der Gutes tat und in dem man sich mit seinen Freunden treffen konnte. Dann habe ich von diesem Ort gehört — verflucht sei die Stunde, als mir dieser Name zum erstenmal zu Ohren kam! —, und ich kam hierher, um mich zu verbessern! Mein Gott! Mich zu verbessern! Meine Frau und meine drei Kinder brachte ich mit. Ich begann ein Textilgeschäft am Marktplatz, das auch gut ging. Dann wurde bekannt, daß ich Freimaurer bin, und man zwang mich, der örtlichen Loge beizutreten, genauso wie Sie gestern abend. Ich trage das Zeichen der Schande auf meinem Unterarm, und ein noch viel schlimmeres Zeichen ist auf meinem Herzen eingebrannt. Ich befand mich unter dem Befehl des schwärzesten Verbrechers und in Verbrechen verstrickt. Was konnte ich tun? Jedes Wort, das ich sagte, um die Dinge erträglicher zu machen, wurde als Verrat bezeichnet, genau wie gestern abend. Ich kann nicht einfach weggehen, denn alles, was ich auf der Welt besitze, steckt in meinem Geschäft. Wenn ich aus der Loge austrete, bedeutet das den sicheren Tod für mich — sie würden mich ermorden —, und Gott weiß, was mit meiner Frau und den Kindern geschieht. O Mann, es ist schrecklich — schrecklich!«
Er legte die Hände vors Gesicht, und sein Körper wurde von krampfhaftem Schluchzen geschüttelt.
McMurdo zuckte die Achseln. »Sie waren zu weich für diesen Job«, sagte er, »Sie sind nicht der richtige Mann für eine solche Arbeit.«
»Ich hatte ein Gewissen und eine Religion. Aber sie haben mich zu einem Verbrecher gemacht, wie sie es selber sind. Ich wurde für einen Auftrag bestimmt. Ich wußte wohl, was mit mir passieren würde, wenn ich mich geweigert hätte. Vielleicht bin ich ein Feigling. Vielleicht ist es der Gedanke an meine arme, kleine Frau und die Kinder, die mich zum Feigling machten. Jedenfalls ging ich. Ich glaube, das wird mich für alle Zeit verfolgen.
Es war ein einsames Haus, zwanzig Meilen von hier entfernt, hinter der Bergkette dort drüben. Mir wurde befohlen, an der Tür zu wachen, genau wie Sie gestern abend. Die eigentliche Arbeit haben sie mir nicht zugetraut. Die anderen gingen hinein. Als sie wieder herauskamen, waren ihre Hände bis zu den
Handgelenken rot. Als wir uns zum Weggehen anschickten, hörten wir ein Kind aus dem Haus hinter uns schreien. Es war ein fünfjähriger Junge, der zugesehen hatte, wie man seinen Vater umbrachte. Ich wurde beinahe ohnmächtig vor Grauen, und doch mußte ich ein verwegenes und lächelndes Gesicht zeigen,
denn ich wußte ganz genau, wenn ich es nicht täte, würden sie das nächste Mal mit ihren blutigen Händen aus meinem Haus herauskommen, und mein kleiner Ted würde um seinen Vater schreien.
Aber ich war in dem Augenblick zu einem Verbrecher geworden, mitschuldig an einem Mord, verloren
für immer in dieser Welt und auch in der nächsten. Ich bin ein guter Katholik, aber der Priester wollte nicht mehr mit mir reden, nachdem er gehört hatte, daß ich ein Scowrer geworden war, und ich wurde exkommuniziert. So steht es also um mich. Und nun sehe ich Sie auf demselben Wege und frage mich, was wohl das Ende sein wird? Sind Sie gewillt, auch ein kaltblütiger Mörder zu werden, oder können wir irgend etwas tun, das zu verhindern?«
»Was wollen Sie tun?« fragte McMurdo kurz. »Sie würden wohl die Polizei nicht informieren?«
»Da sei Gott vor!« rief Morris, »Der bloße Vorsatz schon würde mich gewiß das Leben kosten.«
»Schon gut«, sagte McMurdo. »Ich glaube, Sie sind ein schwacher Mann und machen viel zuviel aus der Sache.«
»Zuviel! Warten Sie, bis Sie länger hier gelebt haben. Sehen Sie das Tal hinunter. Eine Dunstwolke aus hundert Schornsteinen überschattet es. Ich sage Ihnen, daß die Dunstwolke der Morde tiefer und
schwärzer über den Köpfen der Leute hängt. Es ist das Tal der Furcht, das Tal des Todes. Der Schrecken erfaßt die Herzen
Weitere Kostenlose Bücher