Sherlock Holmes - Das Tal der Furcht
hat Angst vor uns. Oder durch die Gesetzgebung und den Richter? Haben wir das nicht schon alles gehabt, und was ist draus
geworden?«
»Es gibt noch die Lynchjustiz«, sagte Bruder Morris.
Ein allgemeiner Aufschrei der Empörung war die Antwort auf diese Bemerkung.
»Ich brauche nur den Finger zu heben«, rief McGinty, »und ich könnte zweihundert Männer in die Stadt bringen und diese von einem Ende bis zum anderen räumen lassen.«
Dann erhob er plötzlich seine Stimme und zog die Stirn in zornige Falten. »Schau her, Bruder Morris, du bist mir schon eine ganze Weile aufgefallen! Du hast selbst keinen Mut und versuchst, anderen den Mut zu nehmen. Du wirst dich ganz schön umsehen, wenn dein Name auf der Tagesordnung steht und wir
über dich verhandeln. Ich denke, genau das ist es, was längst fällig ist und was ich tun sollte.«
Morris war totenblaß geworden, und seine Knie schienen ihm den Dienst zu versagen, so daß er auf
seinen Stuhl zurücksank. Er hob sein Glas mit zitternder Hand und trank, ehe er antworten konnte. »Ich bitte dich, sehr ehrwürdiger Meister vom Stuhl, und alle Brüder der Loge um Entschuldigung, wenn ich mehr gesagt habe, als ich sollte. Ich bin ein treues Logenmitglied - das wißt ihr alle -, und es ist nur die Furcht, daß es der Loge schlecht ergehen könnte, die mich so ängstliche Worte reden ließ. Aber deinem Urteil, sehr ehrwürdiger Meister vom Stuhl, vertraue ich mehr als meinem eigenen, und ich verspreche, daß ich nicht wieder Anlaß zum Tadel geben werde.«
Das wütende Gesicht des Logenmeisters glättete sich, als er den ergebenen Worten lauschte. »Nun gut, Bruder Morris, ich würde es ja selbst bedauern, wenn ich dir eine Lektion erteilen müßte. Aber solange ich auf diesem Stuhle sitze und den Vorsitz führe, werden wir in Wort und Tat eine einige Loge sein. Und nun, Jungs«, fuhr er fort und schaute sich in der Runde um, »will ich nur soviel sagen: Wenn Stanger das bekäme, was er verdient, werden wir mehr Schwierigkeiten kriegen, als uns lieb ist. Diese
Zeitungsleute halten alle zusammen, und im ganzen Land würde jedes Blatt nach der Polizei und der Armee rufen. Aber ich denke, eine ernsthafte Verwarnung könnt ihr ihm schon erteilen. Willst du das besorgen, Bruder Baldwin?«
»Gern!« sagte der junge Mann eifrig.
»Wieviel Mann willst du mitnehmen?«
»Ein halbes Dutzend und zwei als Wache an der Tür. Du kommt mit, Gower, und du, Mansel, und du,
Scanlan, und die beiden Willabys.«
»Ich habe dem neuen Bruder versprochen, er dürfe mitkommen«, sagte der Vorsitzende.
Ted Baldwin sah McMurdo mit einem Blick an, der zeigte, daß er weder vergeben noch vergessen hatte.
»Er kann ja mitkommen, wenn er unbedingt will«, sagte er mürrisch. »Das genügt. Je eher wir an die Arbeit gehen, desto besser.«
Es gab einen allgemeinen Aufbruch mit Rufen, Schreien und Fetzen eines Trinkliedes. Die Bar war
immer noch voll von Gästen, und viele der Brüder blieben dort. Die kleine Bande, die für den Dienst auserkoren war, begab sich auf die Straße und ging in Gruppen zu zweien oder dreien den Bürgersteig entlang, um kein Aufsehen zu erregen. Es war eine bitterkalte Nacht mit einem hellglänzenden Halbmond am frostig-klaren, sternenbe-säten Himmel. Die Männer hielten an und versammelten sich in einem Hof vor einem großen Gebäude. Zwischen den hellerleuchteten Fenstern las man in Goldbuchstaben die
Worte »Vermissa Herald«. Von innen kam das Getöse und Rasseln der Druckmaschinen.
»He! Du da«, sagte Baldwin zu McMurdo, »du kannst hier unten an der Tür stehen und aufpassen, daß die Straße für uns frei ist. Arthur Willaby kann bei dir bleiben. Die anderen kommen mit mir. Habt keine Angst, Jungs, denn wir haben ein Dutzend Zeugen, daß wir in diesem Augenblick in der Bar des
Vereinshauses sind.«
Es war nahezu Mitternacht und die Straßen waren verlassen bis auf ein oder zwei Zecher, die auf dem Heimweg waren. Der Trupp überquerte die Straße und stieß die Tür zum Büro der Zeitung auf. Die
Männer stürmten hinein und die Treppe hinauf, die vor ihnen lag. McMurdo und der andere blieben
unten. Aus dem oberen Zimmer kam ein Ruf, ein Schrei um Hilfe, und dann das Geräusch trampelnder
Füße und fallender Stühle. Einen Augenblick später erschien ein grauhaariger Mann auf dem
Treppenabsatz.
Er wurde gepackt, bevor er fliehen konnte, und seine Brille fiel mit leisem Klirren McMurdo vor die Füße. Da war ein Fall und ein Stöhnen. Er lag auf
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