Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
nun räumte er sie ebenfalls aus dem Weg. Nur wegen dieses Amuletts und seines Zaubers von ewigem Leben. Er ahnte ja nicht, wie grausam Unsterblichkeit sein konnte. Wie einsam die Seele wurde, wenn all jene, die man liebte, alterten und starben. Sie hatte es so oft erlebt, gewöhnte sich jedoch nie daran. Und Michael war zu früh gegangen. Viel zu lang vor seiner Zeit und aus den falschen Gründen. Geopfert einer niederträchtigen Gier nach etwas, das kein nüchtern denkender Mensch würde haben wollen. Jahrhunderte auf der Flucht – vor dem Misstrauen der Menschen, den eigenen Albträumen und grausamen Erinnerungen. Unstet und begleitet von Verlust. War er sich dessen bewusst, welchen Preis Unsterblichkeit verlangte? Sie wollte lachen, erstickte aber fast an der Bitterkeit der Umstände.
Raymond war wahnsinnig, hatte jeglichen Bezug zur Realität verloren und sah nur Reichtum und Macht. Wähnte sich über allem und jedem, wenn er selbst den Tod besiegen konnte. Dabei war niemand Herr und Meister, der das Amulett trug. Der Stein der Ewigkeit mit dem blauen Feuer aus Eis und Kälte führte das Regiment. Bar jeder Barmherzigkeit, fern jeder Güte. Es hatte sie ihre Seele gekostet, sich seiner Kraft Jahr um Jahr zu widersetzen, um nicht gänzlich von ihm aufgesogen und seine ergebene Dienerin zu werden. Sie hatte das Amulett nie gewollt, hätte soviel dafür gegeben, dieser Bürde zu entrinnen, aber nie den Mut – oder sollte sie sagen: die Bosheit – besessen, sie einem anderen aufzuladen. Also ertrug sie ihr Dasein, erfreute sich an den wenigen Gefährten, denen sie ihr Geheimnis anzuvertrauen wagte und litt ein ums andere Mal, wenn sie diese an den Tod verlor, den sie selbst viel zu oft brachte.
Nun gehörte das Amulett ihm, oder er dem Amulett. Bald schon würde er die grausame Wahrheit ergründen, die in ihm lag. Besaß er weniger Skrupel als sie? Konnte er ein glückliches Leben führen – als Mörder, als Richter und Henker in einer Person? Es spielte keine Rolle mehr für sie. Sie litt weder mit ihm, noch mit jenen, die seinen Weg kreuzen würden, wenn die Stimme des Amuletts nach verlorenen Seelen rief. Davon war sie nun befreit und allein dafür war sie ihm dankbar, auch wenn der Tod jetzt in ihrem Herzen klopfte mit jedem Schlag. Sie fühlte die bleierne Schwere, die er mit sich brachte, wenn er alle Kraft aus den Gliedern zog. Beinah ebenso schmerzhaft, wie wenige Stunden zuvor der Stein es bei ihrem Liebsten getan hatte.
Michaels bleiches Gesicht brach ihr Herz. Das Gift wäre nicht mehr nötig gewesen, das Raymond sie zu trinken zwang. Während sie den Becher bis zum letzten Tropfen leerte, klebte ihr Blick an der erstarrten Hülle des Mannes, der ihr in den letzten Jahren Halt und Zuflucht war. Und beinah wünschte sie, Raymond würde das Amulett auch gegen sie wenden, damit ihre Seele mit Michaels vereint wäre im eisigen Blau des Kristalls. Doch diesen Mut besaß er nicht.
Zu lange war sie dessen Hüterin gewesen. Wenn der Stein sie erneut anerkannte, bestand die Gefahr, dass er ihm die Seele raubte. Das konnte er nicht riskieren. Sein Triumph durfte nicht getrübt werden.
Aber an Michael hatte er ihn erprobt, und voller Gier war der Geist des Steines über den wehrlosen Mann hergefallen. Seine Schreie klangen noch in ihren Ohren nach. Ein solches Opfer schmeckte dem Siegel besonders gut. Aber es schürte auch sein Verlangen, und bald würde es den Träger mehr denn je treiben, weiteres Futter zu besorgen. Ihn zum Jäger machen, einem Mittel zum Zweck. Raymond würde lernen, wer wen besaß. Aber nach diesem ersten Rausch badete er im Gefühl der Unbesiegbarkeit. In einem Hochmut, dessen Fall sehr tief nach unten ging.
Michaels Körper war nun kalt und starr. Auch sie spürte die Kälte immer tiefer in ihren Körper kriechen, ihre Lungen füllen und jeden Atemzug ein wenig schwerer als den vorigen machen. Sie roch das Moor, schauderte bei dem Gedanken, dass ihr Körper bald schon dort versinken würde. Spielte es eine Rolle, wo man sein Grab fand?
Brachte er Michael auch hierher? Um sie wenigstens in den weichen Tiefen zu vereinen? Das war ihr einzig noch verbleibender Wunsch.
Und so galten ihre letzten Gedanken ihrem Liebsten.
Während sich die kühlen, feuchten Finger des Moores nach ihr ausstreckten und sie in die Tiefe zogen, ihr brechender Blick auf Raymonds hämisches Gesicht und das funkelnde Medaillon um seinen Hals fiel, flüsterte Lady Valerie mit ihrem letzten Atemzug:
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