Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Zündhütchen versehen, welche die Selbstentzündung verursachen. Darauf beschränkt sich Ihre ganze Aufgabe. Ihr Feuerruf wird rasch verbreitet werden. Sie gehen dann ruhig die Straße hinunter, und in ungefähr zehn Minuten bin ich wahrscheinlich bei Ihnen. Hoffentlich habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
»Ich muss neutral bleiben, mich dem Fenster nähern, Sie beobachten, auf Ihr Zeichen dies hineinwerfen, dann ›Feuer!‹ schreien und Sie an der Straßenecke erwarten?«
»Ganz richtig.«
»Sie können sich völlig auf mich verlassen.«
»Vortrefflich. Doch nun ist es wohl Zeit, mich auf meine Rolle vorzubereiten.«
Er begab sich in sein Schlafzimmer und kehrte nach wenigen Minuten als ein liebenswürdiger, schlicht aussehender Methodisten-Prediger zurück. Sein breiter schwarzer Hut, seine weiten Beinkleider, die weiße Perücke, das milde Lächeln und der eigentümliche, stets damit verbundene Ausdruck im Verein mit wohlwollender Neugier konnten kaum treffender dargestellt werden. Aber Holmes wechselte nicht nur seinen Anzug. Seine Züge, sein Benehmen, ja sein ganzes Wesen schien ebenfalls mit jeder neuen Rolle zu wechseln.
Zehn Minuten vor sieben waren wir in der Serpentine Avenue. Es war schon dämmerig, und die Laternen wurden eben angesteckt; wir wanderten vor der Villa auf und ab, um ihre Bewohnerin zu erwarten. Das Haus war genau so, wie ich es mir nach Holmes’ kurzer Beschreibung vorgestellt hatte, doch die Gegend hatte ich mir viel einsamer gedacht. Sie erschien mir für eine kleine Straße in ruhiger Nachbarschaft sogar sehr belebt. In einer Ecke plauderte eine Gruppe fröhlicher, rauchender Müßiggänger, drüben hielt ein Scherenschleifer mit seinem Rad, und in der Nähe schäkerten zwei Soldaten mit einem Kindermädchen. Mehrere gutgekleidete junge Leute schlenderten, die Zigarre im Mund, langsam auf und ab.
»Sehen Sie«, bemerkte Holmes, »diese Heirat vereinfacht die Sache außerordentlich. Jetzt ist die Fotografie ein zweischneidiges Schwert geworden. Ich glaube nicht, dass ihr viel daran liegt, sie Mr Norton zu zeigen, ebenso wenig wie unser Klient sie von seiner Prinzessin bewundert sehen möchte. Die Frage ist nur, wo finden wir das Bild?«
»Ja, wo?«
»Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie es stets mit sich herumträgt. Ein Bild in Kabinettformat ist viel zu groß, um es leicht in einem Frauenkleid zu verbergen. Vermutlich hat sie es daher nicht bei sich.«
»Wo mag es dann stecken?«
»Vielleicht bei ihrem Bankier oder ihrem Rechtsanwalt. Beide Möglichkeiten sind nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich. Warum sollte sie es einem anderen übergeben? Auf sich selbst konnte sie sich verlassen, aber sie wusste nicht, ob auch ein Geschäftsmann jedem politischen oder indirekten Einfluss widerstehen würde. Bedenke außerdem, dass sie entschlossen ist, es in den nächsten Tagen zu gebrauchen, es muss ihr deshalb stets zur Hand sein. Folglich kann sie es nur in ihrer eigenen Wohnung haben.«
»Hat man dort nicht schon zweimal eingebrochen?«
»Pah! Sie verstanden eben nicht zu suchen.«
»Und wie wollen Sie das anfangen?«
»Ich werde gar nicht suchen.«
»Was denn?«
»Sie soll es mir selbst zeigen.«
»Sie wird sich sicher weigern.«
»Dazu gebe ich ihr keine Möglichkeit. Horchen Sie, der Wagen kommt! Nun befolgen Sie ganz genau meine Vorschrift!«
Der Schein der Wagenlaterne wurde sichtbar, und ein eleganter kleiner Landauer rollte auf die Villa zu. Er hielt kaum, als schon einer der herumlungernden Leute herbeistürzte, um für das Öffnen des Schlags ein Trinkgeld zu erlangen. Ein anderer hegte dieselbe Absicht und stieß ihn beiseite. Ein heftiger Streit brach aus, die beiden Soldaten mischten sich hinein und nahmen für den ersten Partei, während der Scherenschleifer sich auf die Seite des anderen schlug. Es kam zu einer förmlichen Schlägerei, und im Augenblick war die aus dem Wagen gestiegene Dame der Mittelpunkt einer Gruppe aufgeregter, zankender Menschen, die mit Fäusten und Stöcken aufeinander losgingen. Holmes stürzte sich zum Schutz der Dame mitten ins Gewühl, aber er hatte sie noch nicht erreicht, als er einen Schrei ausstieß und mit blutüberströmtem Gesicht zu Boden fiel. Dieser Anblick veranlasste die ganze Bande, nach verschiedenen Seiten Reißaus zu nehmen, nur einige Personen aus dem bessergekleideten Publikum, die teilnahmslose Zuschauer der Szene geblieben waren, beeilten sich, der Dame und dem Verletzten zu Hilfe zu kommen.
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