Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Minuten zurück. Nun stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich das Zimmer leer fand – der Kranke war verschwunden.
Natürlich stürzte ich gleich ins Wartezimmer. Der Sohn war auch fort. Die Haustür wurde tagsüber nicht verschlossen. Mein Diener, der die Patienten einzulassen pflegt, ist noch neu und nicht sehr aufgeweckt. Gewöhnlich wartet er unten und kommt erst heraufgesprungen, um die Herrschaften hinauszubegleiten, wenn ich im Sprechzimmer klingle. Er hatte nichts gehört, und die Sache blieb völlig rätselhaft.
Bald nachher kam Blessington von seinem Spaziergang zurück, aber ich erwähnte ihm gegenüber nichts von dem Vorfall. Offen gestanden habe ich in letzter Zeit den Verkehr mit ihm überhaupt so viel wie möglich gemieden.
Eigentlich war ich überzeugt, dass ich weder den Russen noch seinen Sohn je wieder zu Gesicht bekommen würde; aber heute Abend erschienen beide zu meiner Überraschung ganz wie das erste Mal und zur nämlichen Stunde bei mir im Sprechzimmer.
›Ich muss Sie sehr um Entschuldigung bitten, Herr Doktor‹, sagte mein Patient, ›dass ich gestern so ohne Abschied fortgegangen bin.‹
›Allerdings war ich nicht wenig verwundert darüber‹, erwiderte ich.
›Sie müssen wissen‹, fuhr er fort, ›dass mir, wenn ich nach solchem Anfall aufwache, meist jede Erinnerung an das Vorhergegangene geschwunden ist. Ich muss wohl während Ihrer Abwesenheit in noch halb bewusstlosem Zustand zum Haus hinaus und auf die Straße gegangen sein.‹
›Und ich‹, sagte der Sohn, ›sah meinen Vater an der Tür des Wartezimmers vorbeikommen und dachte natürlich nichts anderes, als dass die Konsultation zu Ende sei. Erst nachdem wir daheim angekommen waren, wurde mir der wahre Stand der Dinge klar.‹
›Nun, es ist ja kein Unglück daraus entstanden‹, versetzte ich lachend. ›Sie haben mir nur viel Kopfzerbrechen verursacht. Wenn Sie, mein Herr, sich gefälligst wieder ins Wartezimmer verfügen wollen, können wir die so plötzlich abgebrochene Konsultation gleich wieder aufnehmen.‹
Etwa eine halbe Stunde lang sprach ich mit dem alten Herrn über seine Symptome, verschrieb ihm eine Arznei und sah ihn dann sich am Arm seines Sohnes entfernen.
Ich sagte Ihnen schon, dass Blessington um diese Zeit seinen täglichen Spaziergang zu machen pflegte. Er kam bald nachher zurück, und ich hörte ihn die Treppe hinaufgehen. Im nächsten Augenblick stürmte er aber wieder herunter und in mein Sprechzimmer, wie wahnsinnig vor Angst und Schrecken.
›Wer ist bei mir im Zimmer gewesen?‹, rief er.
›Kein Mensch‹, entgegnete ich.
›Das ist eine freche Lüge!‹, kreischte er. ›Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst.‹
Ich hielt ihm die beleidigende Rede zugute, da er vor Furcht ganz von Sinnen schien. Als ich mit ihm hinaufging, zeigte er mir verschiedene Fußspuren auf dem hellen Teppich.
›Sollen die etwa von mir herrühren?‹, rief er.
Die Abdrücke waren viel zu groß dazu und offenbar ganz frisch. Es hat heute Nachmittag stark geregnet, wie Sie wissen, und außer den beiden Russen waren keine Patienten bei mir gewesen. – Es ließ sich nicht anders erklären, als dass der Mann im Wartezimmer aus irgendeinem mir unbekannten Grund in Blessingtons Wohnung hinaufgegangen war, während ich mich mit seinem Vater besprach. Nichts war von der Stelle gerückt oder entwendet worden, die Fußspuren bildeten den einzigen Beweis, dass wirklich jemand im Zimmer gewesen war.
Blessington regte sich ganz maßlos über den Vorfall auf, der natürlich keinem gleichgültig gewesen wäre. Er sank laut schluchzend in seinen Stuhl und war kaum imstande, einen zusammenhängenden Satz herauszubringen. Auf seinen Wunsch beschloss ich, mir bei Ihnen Rat zu holen, Mr Holmes; die Sache ist auch wirklich höchst seltsam, obgleich er ihr entschieden eine viel zu große Wichtigkeit beilegt. Wenn Sie die Güte hätten, mit mir im Wagen zurückzukommen, würde sich Blessington vielleicht einigermaßen beruhigen. Dass es Ihnen gelingen könnte, eine Erklärung für den merkwürdigen Vorfall zu finden, wage ich kaum zu hoffen.«
Sherlock Holmes hatte dem langen Bericht so gespannt zugehört, dass ich wohl sah, wie sehr ihn die Angelegenheit interessierte. Zwar blieben seine Gesichtszüge regungslos wie immer, aber mehr und mehr senkten sich die Lider über seine Augen, und immer dichter qualmte der Rauch seiner Pfeife bei jeder überraschenden Wendung in der Geschichte. Kaum hatte der Arzt geendet, als
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