Sherlock Holmes - gesammelte Werke
dauerte gar nicht lange, als unser Norfolker Kunde auch schon im schnellsten Tempo in einer Droschke vorgefahren kam. Er sah niedergeschlagen und abgespannt aus, die klaren Augen waren trübe, und die heitere Stirn war in Falten gezogen.
»Die Geschichte fällt mir allmählich an die Nerven, Mr Holmes«, begann er und ließ sich ermattet in einen Lehnstuhl sinken. »Es ist schon ein ziemlich unbehagliches Gefühl, sich heimlich von unbekannten Menschen umgeben zu wissen, die etwas gegen einen im Schilde führen; wenn man aber zudem mitansehen muss, wie die eigene Frau dabei zugrunde geht, wird die Sache nachgerade unerträglich. Sie wird immer siecher, zusehends siecher.«
»Hat sie noch nichts geäußert?«
»Nein, Mr Holmes, kein Wort. Und doch hat das arme Weib manchmal das Bedürfnis gehabt zu sprechen – ich hab’s ihr angesehen –, aber sie hat’s nicht über sich gebracht. Ich hab’s ihr erleichtern wollen, aber ich muss sagen, ich hab’s so ungeschickt angefangen, dass ich’s ihr vielmehr erschwert und sie davon abgebracht habe. Sie redete von meiner alten Familie, von unserem guten Ruf in der Grafschaft und von unserem Stolz auf unsere unbefleckte Ehre. Ich merkte, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, aber auf einmal sprang sie von diesem Thema ab, ohne zu Ende gekommen zu sein.«
»Aber Sie haben für sich neue Entdeckungen gemacht?«
»Mancherlei, Mr Holmes. Ich bringe Ihnen hier verschiedene tanzende Männchen zur Prüfung mit, und, was das Wichtigste ist, ich habe den Kerl gesehen!«
»Was, den Schreiber der Figuren?«
»Jawohl, ich habe ihn bei der Arbeit beobachtet. Aber ich will Ihnen alles in der richtigen Reihenfolge berichten. Als ich nach dem Besuch bei Ihnen nach Hause zurückgekehrt war, fand ich gleich am nächsten Morgen wieder neue tanzende Männchen. Sie waren mit Kreide an das schwarze hölzerne Tor des Wagenschuppens gezeichnet, die man von den vorderen Fenstern unseres Wohnhauses gerade vor Augen hat. Ich habe sie genau nachgemacht, hier ist die Kopie.« Er faltete einen Zettel auseinander und legte ihn auf den Tisch. Die Zeichen sahen folgendermaßen aus:
»Ausgezeichnet!«, sagte Holmes. »Ausgezeichnet! Bitte fahren Sie fort.«
»Nachdem ich die Abschrift genommen hatte, löschte ich die Dinger aus; am übernächsten Morgen war jedoch wieder eine neue Serie dort, deren Kopie ich hier habe.«
Holmes rieb sich die Hände und lachte vor Vergnügen über die günstige Weiterentwicklung.
»Unser Material mehrt sich erfreulich schnell«, sagte er.
»Drei Tage darauf fand ich wieder ein Blatt Papier mit den rätselhaften Figuren an der Sonnenuhr. Ich habe es hier. Es sind, wie Sie sehen, genau dieselben Zeichen darauf, wie auf dem letzten. Nun entschloss ich mich endlich, dem Schreiber aufzulauern. Ich nahm meinen Revolver und setzte mich in mein Zimmer, von dem aus ich den Hof auf den Garten überblicken kann. Im Zimmer hatte ich kein Licht, draußen war es mondhell. Als ich so gegen zwei Uhr nachts am Fenster saß, hörte ich Schritte; es war meine Frau im Schlafgewand. Sie bat mich inständig, zu Bett zu gehen. Ich erklärte ihr frei heraus, dass ich den Menschen sehen wollte, der ein so eigentümliches Spiel mit uns trieb. Sie antwortete, es handle sich nur um einen schlechten Scherz, und ich solle gar keine Notiz davon nehmen.
›Wenn es dich beunruhigt, Hilton, können wir ja zusammen verreisen und uns so dieser Störung entziehen.‹
›Was, uns von einem üblen Witzbold aus unserem eigenen Haus treiben lassen?‹, erwiderte ich. ›Die ganze Nachbarschaft würde uns ja auslachen.‹
›Wir können morgen früh weiter darüber reden, komm jetzt bitte zu Bett‹, versetzte sie zärtlich.
Während sie noch sprach, sah ich im Mondschein ihr bleiches Gesicht plötzlich noch bleicher werden. Im Schatten des Schuppens bewegte sich etwas. Eine dunkle Gestalt kroch um die Ecke und kauerte vor dem Tor nieder. Ich ergriff meine Waffe und wollte hinausstürzen. Aber meine Frau schlang die Arme um mich und hielt mich krampfhaft fest. Ich versuchte, sie abzuschütteln, sie ließ aber nicht los. Endlich machte ich mich frei, aber ehe ich zur Tür hinauskam und das Gebäude erreichte, war der Kerl verschwunden. Er hatte jedoch eine Spur hinterlassen; an dem Tor befand sich wieder dieselbe Reihe tanzender Figuren wie die beiden vorhergehenden Male und wie ich sie auf jenem Blatt nachgezeichnet habe. Sonst war nichts von ihm zu sehen, obwohl ich das ganze Gelände absuchte. Das
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