Sherlock Holmes - gesammelte Werke
hinter sich hatte.
»Was ist’s, Watson?«, fragte mich Holmes.
»Vollkommene Erschöpfung – möglicherweise bloß Hunger und Müdigkeit«, antwortete ich, während ich den schwachen Puls fühlte.
»Er hat eine Rückfahrkarte von Mackleton in Nord-England«, sagte Holmes, indem er sie aus der Westentasche herauszog. »Es ist jetzt noch nicht ganz zwölf Uhr. Er muss sehr früh aufgebrochen sein.«
Die faltigen Augenlider fingen zu zucken an, und bald blickte ein Paar offener, grauer Augen zu uns empor. Im nächsten Augenblick war der Mann wieder auf den Beinen, und die starke Röte in seinem Gesicht verriet seine Scham.
»Verzeihen Sie diese Schwäche, Mr Holmes, ich bin etwas übermüdet. – Danke Ihnen. Wenn ich ein Glas Milch und ein Stückchen Zwieback bekommen könnte, würde ich rasch wieder wohl sein. Ich bin persönlich gekommen, um Sie dazu zu bewegen, mit mir zurückzufahren. Ich befürchtete, dass Sie ein Telegramm von der Dringlichkeit meines Falles nicht hinreichend überzeugen würde.«
»Wenn Sie sich ganz erholt haben ...«
»Ich fühle mich wieder vollkommen wohl. Ich begreife gar nicht, wie ich so schwach sein konnte. Ich bitte Sie, Mr Holmes, mit dem nächsten Zug mit mir nach Mackleton zu kommen.«
Mein Freund schüttelte den Kopf.
»Mein Kollege Dr. Watson wird mir bestätigen, dass wir gegenwärtig sehr stark beschäftigt sind. Ich habe noch mit den Ferrersschen Dokumenten zu tun, außerdem steht in Kürze die Abergavennyer Mordaffäre zur Verhandlung; es könnte mich also nur eine außergewöhnlich wichtige Angelegenheit zu einer Reise veranlassen.«
»Wichtig!«, rief unser Besucher und schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Haben Sie denn noch nichts von der Entführung des einzigen Sohnes des Herzogs von Holdernesse gehört?«
»Was! Des ehemaligen Ministerpräsidenten?«
»Gewiss. Wir hatten versucht, es totzuschweigen, aber der ›Globe‹ hat in der gestrigen Abendnummer Andeutungen gebracht. Ich glaubte, es wäre Ihnen schon zu Ohren gekommen.«
Holmes streckte seinen langen dünnen Arm aus und nahm den Band mit ›H‹ aus seiner Enzyklopädie vom Bücherbrett.
»›Holdernesse, sechster Herzog, Dr. juris, Dr. philosophiae usw., Professor, Staatsrat, Baron Beverley, Graf von Carston‹ – um Gottes willen – was für eine Menge Titel! – ›Lord Hallamshire seit 1900. Verheiratet mit Edith, der Tochter des Freiherrn von Appledore 1888. Erbe und einziges Kind Lord Saltire. Grundbesitz ungefähr zweihundertfünfzigtausend Morgen groß. Bergwerke in Lancashire und Wales. Adressen: Carlton House Terrace; Holdernesse Hall, Hallamshire; Carston Castle, Bangor, Wales. Lord der Admiralität, 1872; Staatssekretär –‹ Das genügt, der Mann ist sicher einer der hervorragendsten Bürger!«
»Der hervorragendste und vielleicht auch der reichste. Ich weiß wohl, Mr Holmes, dass Sie nicht um des Geldes, sondern um der Sache willen arbeiten, aber ich will Ihnen doch sagen, dass Seine Hoheit mir schon angedeutet hat, demjenigen, der den Aufenthaltsort seines Sohnes ausfindig macht, fünftausend Pfund, und demjenigen, der ihm die Räuber seines Kindes namhaft machen kann, weitere tausend Pfund auszahlen zu wollen.«
»Das ist ein fürstliches Angebot«, sagte Holmes. »Ich denke, Watson, wir begleiten Herrn Direktor Huxtable nach Norden zurück. Und nun, Herr Doktor, können Sie mir, wenn Sie Ihre Milch verzehrt haben, gütigst erzählen, wann und wie sich die Sache zugetragen hat, und schließlich auch, was Dr. Huxtable von der Klosterschule in Mackleton mit der Sache zu tun hat, und warum er erst nach drei Tagen – so lange haben Sie sich nicht rasiert – kommt, um meine Dienste in Anspruch zu nehmen.«
Unser Besucher bekam nach dem kleinen Imbiss wieder glänzende Augen und rote Wangen. Nachdem er sich in Positur gesetzt hatte, begann er seine Schilderung des Vorfalls.
»Zuerst muss ich Ihnen mitteilen, meine Herren, dass die Klosterschule eine Vorbereitungsanstalt ist, die ich gegründet habe, und der ich nun vorstehe. ›Huxtables Kommentar des Horaz‹ wird Ihnen von früher vielleicht noch bekannt sein. Die Klosterschule ist bei Weitem das beste und vornehmste Vorbereitungsinstitut in England. Lord Leverstoke, der Graf von Blackwater, der Baron Soames haben mir alle ihre Söhne anvertraut. Aber als mir vor drei Wochen der Herzog von Holdernesse seinen Sekretär Mr James Wilder schickte, um mit mir über die Aufnahme des jungen zehnjährigen Lord Saltire, seines
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