Sherlock Holmes - gesammelte Werke
nicht?«
»Gott behüte, auf keinen Fall.«
»Woher wissen Sie’s dann?«
»Ich habe ein paar vertrauliche Unterredungen mit dem Sekretär des Herzogs, Mr Wilder, gehabt und in deren Verlauf über die Herzensneigung des jungen Lords Aufschluss bekommen.«
»Ich verstehe. Ist übrigens der letzte Brief des Herzogs, nachdem der Junge fort war, in seinem Zimmer gefunden worden?«
»Nein; er hatte ihn mitgenommen. – Ich glaube, Mr Holmes, es ist Zeit, dass wir aufbrechen.«
»Ich will einen Wagen bestellen. In einer Viertelstunde werden wir Ihnen zu Diensten sein. Falls Sie nach Hause telegrafieren, Herr Direktor, tun Sie nur so, als ob wir noch die Spur in Liverpool weiter verfolgen wollten. Unterdessen werde ich in aller Stille ganz in Ihrer Nähe arbeiten, und möglicherweise gelingt es zwei so alten Spürhunden wie Dr. Watson und mir, die Fährte Ihrer zwei Flüchtlinge doch noch auszuschnüffeln.«
Gegen Abend erreichten wir das Heim des Mr Huxtable; es war schon dunkel, als wir die berühmte Anstalt betraten. Im Hausflur auf einem Tisch lag eine Visitenkarte, und der Diener flüsterte seinem Herrn etwas ins Ohr, worauf uns dieser sehr erregt mitteilte, dass der Herzog und sein Sekretär, Mr Wilder, im Sprechzimmer warteten.
»Kommen Sie mit, meine Herren«, fuhr er dann fort, »ich werde Sie sogleich vorstellen.«
Ich kannte natürlich die Bilder des berühmten Staatsmannes sehr wohl, aber er sah in Wirklichkeit ganz anders aus. Er war ein schlanker, stattlicher Herr mit langem, aristokratischem Gesicht und einer Nase von seltener Krümmung und Länge; seine Kleidung war sehr sorgfältig. Die kreideweiße Gesichtsfarbe trat durch den langen, hellroten Vollbart noch stärker hervor. Er sah uns streng an. Neben ihm stand sein Privatsekretär, ein blutjunger Mann, klein und gewandt, mit klugen hellblauen Augen und lebhaftem Gesichtsausdruck. Er eröffnete auch sofort die Unterhaltung; sein Ton war schneidend und bestimmt.
»Ich kam bereits heute früh in Ihre Wohnung, Herr Direktor, leider zu spät, um Ihre Reise nach London zu verhindern. Ich hörte, dass der Zweck derselben war, Mr Sherlock Holmes den Fall zu übergeben. Seine Hoheit ist ungehalten darüber, dass Sie diesen Schritt getan haben, ohne vorher seine Einwilligung einzuholen.«
»Als ich erfuhr, dass die Polizei eine falsche Fährte verfolgte ...«
»Seine Hoheit ist durchaus nicht der Ansicht, dass die polizeiliche Spur falsch ist.«
»Aber sicher, Mr Wilder ...«
»Sie wissen sehr wohl, Herr Direktor, dass Seine Hoheit in erster Linie jeden öffentlichen Skandal vermieden haben will. Er wünscht, so wenig Menschen wie möglich ins Vertrauen zu ziehen.«
»Die Sache ist ja leicht wieder gutzumachen«, antwortete schüchtern Mr Huxtable, »Mr Holmes kann morgen mit dem ersten Zug gleich wieder nach London zurückkehren.«
»Das werde ich schwerlich tun, Herr Direktor«, versetzte Holmes ganz sanftmütig. »Die nordische Bergluft ist sehr kräftigend und angenehm, und ich beabsichtige daher, einige Tage auf dem Moor zu verleben und mir nach meinem Belieben die Zeit zu vertreiben. Ob ich freilich bei Ihnen wohne oder im Gasthaus, darüber haben Sie natürlich zu entscheiden.«
Ich merkte, dass sich der unglückliche Direktor in der größten Verlegenheit befand. Zum Glück kam ihm der Herzog selbst zu Hilfe. Mit tiefer, starker Stimme sagte er:
»Ich muss Mr Wilder beistimmen, dass es besser gewesen wäre, Herr Direktor Huxtable, wenn Sie mich vorher gefragt hätten. Da Mr Holmes jedoch bereits ins Vertrauen gezogen ist, würde es töricht sein, wenn wir seine Dienste nicht benutzen wollten. Sie brauchen nicht ins Gasthaus zu gehen, Mr Holmes, ich würde mich vielmehr freuen, wenn Sie mit mir nach Holdernesse Hall kommen und dort mein Gast sein wollten.«
»Ich danke Eurer Hoheit. Im Interesse meiner Nachforschungen halte ich es aber für zweckmäßiger, hierzubleiben, wo die Sache passiert ist.«
»Ganz wie Sie wollen, Mr Holmes. Mr Wilder und ich sind selbstverständlich gerne bereit, Ihnen jede gewünschte Auskunft zu erteilen.«
»Ich werde Sie wahrscheinlich später im Schloss besuchen müssen«, erwiderte Holmes. »Jetzt möchte ich Sie nur noch fragen, ob Sie sich selbst bereits eine Meinung darüber gebildet haben, wie das plötzliche geheimnisvolle Verschwinden Ihres Sohnes wohl zu erklären ist?«
»Nein, ich habe noch keine.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich einen für Sie peinlichen Punkt berühre, ich kann jedoch nicht
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