Sherlock Holmes - gesammelte Werke
private Rache gerechtfertigt ist. Alles Überreden ist zwecklos. Meine Sympathien in diesem Fall sind mehr auf Seiten der Verbrecher als auf Seiten des Opfers, und ich lehne es darum ab, hier irgendwie handelnd einzugreifen.«
Holmes hatte über die tragische Szene, der wir beigewohnt hatten, noch kein Wort zu mir geäußert, aber ich bemerkte jeden Morgen an ihm, dass er sehr nachdenklich war, und aus seinem Blick und seinem Benehmen war zu schließen, dass er sich bemühte, sich irgendeine Erinnerung ins Gedächtnis zurückzurufen. Mitten im Frühstück sprang er eines Tages plötzlich vom Stuhl auf und rief: »Bei Gott, Watson; ich hab’s! Nehmen Sie Ihren Hut und kommen Sie mit!« In größter Eile ging’s die Baker Street hinunter und die Oxford Street entlang bis fast an den Regent’s Circus. Hier befand sich links ein Schaufenster, in dem Fotografien berühmter Männer und schöner Frauen ausgestellt waren. Holmes fasste eines dieser Bilder scharf ins Auge. Ich folgte seinem Blick und sah das Bildnis einer fürstlichen, stattlichen Dame in Hofkostüm und mit einer diamantenen Krone auf dem fein geschnittenen Kopf. Ich betrachtete die fein gebogene Nase, die charakteristischen Augenbrauen, den geraden Mund und das energische kleine Kinn. Als ich dann darunter den Namen des bedeutenden und hochangesehenen Staatsmannes von altem Adel las, dessen Gemahlin sie war, blieb mir vor Staunen fast der Atem stehen. Mein Blick begegnete dem meines Freundes.
Sherlock Holmes legte, als wir von dem Fenster weggingen, statt eine Antwort zu geben, den Finger vor den Mund.
D IE SECHS N APOLEONBÜSTEN
Es war nichts Ungewöhnliches, wenn Inspektor Lestrade von Scotland Yard sich des Abends bei uns einfand. Seine Besuche waren Holmes schon aus dem Grund nicht unangenehm, weil er dadurch mit den Vorgängen im Hauptpolizeiamt in Fühlung blieb. Er hörte die Erzählungen Lestrades aufmerksam an und gab ihm aus seinem reichen Schatz von Kenntnissen und Erfahrungen gerne einen Wink oder eine Andeutung, ohne selbst handelnd einzugreifen.
Eines Abends nun war Lestrade, nachdem er die üblichen Bemerkungen über die Witterung und die letzten Zeitungsneuigkeiten gemacht hatte, auffallend still und beschränkte sich darauf, nachdenklich an seiner Zigarre zu ziehen. Holmes sah ihn scharf an.
»Sonst nichts los?«, fragte er nach einer Weile.
»Nichts von Bedeutung, Mr Holmes.«
»Nur raus mit der Sprache!«
Lestrade lachte.
»Nun, Mr Holmes, leugnen hat Ihnen gegenüber ja doch keinen Zweck; ich habe tatsächlich etwas auf dem Herzen, aber ’s ist ’ne so dumme Geschichte, dass ich Sie eigentlich nicht damit belästigen wollte. Auf der anderen Seite ist die Sache doch wieder merkwürdig, und meines Wissens haben Sie ja gerade für das Außergewöhnliche eine besondere Vorliebe. Freilich schlägt es nach meinem Dafürhalten mehr in Dr. Watsons Fach als in unseres.«
»Also was Krankhaftes?«, fragte ich.
»Ja, was Verrücktes«, antwortete er, »sogar was besonders Verrücktes. Können Sie sich vorstellen, dass es heute noch einen Menschen gibt, der von einem solchen Hass gegen Napoleon I. erfüllt ist, dass er alle Büsten von ihm, deren er habhaft werden kann, in Stücke zerschlägt?«
Holmes sank teilnahmslos in seinen Stuhl zurück.
»Das ist nichts für mich«, sagte er.
»Das hab ich mir auch gedacht. Aber immerhin, wenn jemand nachts einbricht und fremde Büsten stiehlt und vernichtet, so muss sich außer dem Arzt auch die Polizei mit ihm beschäftigen.«
Holmes setzte sich wieder aufrecht.
»Einbruch! Das klingt schon interessanter. Erzählen Sie weiter.«
Lestrade zog sein amtliches Notizbuch aus der Tasche, um anhand seiner Aufzeichnungen die Einzelheiten in sein Gedächtnis zurückzurufen.
»Der erste Fall hat sich vor vier Tagen ereignet«, fuhr er fort. »Es war bei Morse Hudson, der einen Verkaufsladen für Bilder und Büsten in der Kennington Street hat. Der Verkäufer hatte den vorderen Verkaufsraum einen Augenblick verlassen, als er plötzlich einen starken Krach hörte. Er stürzte rasch herbei und fand eine Gipsfigur Napoleons, die mit mehreren anderen Kunstwerken auf dem Ladentisch gestanden hatte, zertrümmert am Boden liegen. Er lief schnell hinaus auf die Straße, konnte aber, trotzdem ihm verschiedene Leute erklärten, sie hätten einen Mann aus dem Laden herauskommen sehen, weder diesen Menschen selbst erblicken noch einen Anhaltspunkt zu seiner Ermittlung finden. Es schien sich um einen jener
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