Sherlock Holmes - gesammelte Werke
einer ganz bestimmten Methode vorgeht und mit Überlegung handelt. So hat er zum Beispiel im Wohnhaus des Dr. Barnicot, wo ein Geräusch die Familie hätte wecken können, die Büste mit hinausgenommen und erst draußen zerschlagen, wohingegen er sie in dem anderen Sprechzimmer, wo diese Gefahr geringer war, gleich an Ort und Stelle zertrümmert hat. Die ganze Sache ist scheinbar sehr geringfügig, wenn ich aber bedenke, dass meine berühmtesten Fälle immer einen wenig versprechenden Anfang hatten, so wage ich nichts mehr als unbedeutend anzusehen. Erinnern Sie sich noch, Watson, wie die furchtbare Tragödie der Familie Abernetty zuerst in Gestalt eines kaum wahrnehmbaren Eindrucks, den an einem heißen Sommertag ein Stängelchen Petersilie auf der Butter hinterlassen hatte, zu meiner Kenntnis gelangte? Ich kann mich also einstweilen nicht mit einem erhabenen Lächeln über die Sache hinwegsetzen, Lestrade, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir von irgendwelchen neuen Vorfällen in dieser sonderbaren Angelegenheit sofort Mitteilung machen.«
Diese Nachricht traf rascher ein und lautete ernster, als sich mein Freund gedacht haben mochte. Als ich am nächsten Morgen noch mit Ankleiden beschäftigt war, klopfte es an die Tür meines Schlafzimmers und herein trat Holmes mit einem Telegramm in der Hand. Er las es laut vor:
»Sofort kommen, Pitt Street 131, Kensington – Lestrade.«
»Was mag denn los sein?«, fragte ich.
»Weiß auch nicht – irgendwas. Aber ich vermute, es ist die Fortsetzung der Geschichte von den Statuen. In diesem Fall würde unser Freund Bilderstürmer den Schauplatz seiner Tätigkeit in ein anderes Viertel verlegt haben. Das Frühstück steht schon auf dem Tisch, Watson, und die Droschke vor der Tür.«
Nach einer halben Stunde waren wir bereits in der Pitt Street, einer kleinen, ruhigen Straße, ganz in der Nähe der belebtesten Londoner Geschäftsgegend. Nr. 131 war eins der schmucklosen, alten Häuser, wo man gänzlich unromantisch wohnt. Als wir vorfuhren, fanden wir das Gitter vor dem Haus von einer neugierigen Menge umlagert. Holmes gab ein Zeichen mit der Pfeife.
»Wahrhaftig, Watson, es ist zumindest ein Mordversuch gemacht worden, sonst würde kein Berichterstatter hier sein; sehen Sie mal, wie er sich vorbeugt und beinahe den Hals ausrenkt! Es deutet alles auf eine Gewalttat hin. Und was soll das heißen? Die oberen Treppenstufen sind nass und die unteren trocken. Ah, dort am Fenster sehe ich Lestrade, er wird uns bald den nötigen Aufschluss geben können.«
Er empfing uns mit ernster Miene und geleitete uns in ein Empfangszimmer, in dem ein unsauber aussehender älterer Herr in einem Schlafrock aufgeregt auf- und abging. Lestrade stellte ihn uns als den Eigentümer des Hauses vor – Mr Horace Harker vom ›Central Press Syndicate‹.
Dann sagte er: »Es handelt sich um die alte Geschichte von den Napoleonbüsten. Sie schienen sich gestern Abend dafür zu interessieren, Mr Holmes, und daher glaubte ich, es würde Ihnen nicht unangenehm sein, die Fortsetzung zu erfahren. Die Sache hat schon eine ernstere Wendung genommen.«
»Wie weit hat sie sich denn entwickelt?«
»Bis zum Mord. – Mr Harker, wollen Sie diesen Herren den Vorgang genau erzählen?«
Der Mann im Schlafrock wandte sich uns zu. Er war gänzlich niedergeschlagen.
»Es ist eine der eigentümlichsten Begebenheiten«, begann er. »Ich habe mich mein Lebtag damit beschäftigt, alle möglichen Neuigkeiten zu erfahren und journalistisch zu verwerten, und jetzt, wo sich bei mir selbst ein Aufsehen erregender Fall ereignet hat, bin ich derartig verwirrt, dass ich keinen Satz ordentlich zusammenbringen kann. Wenn das in einem fremden Haus passiert wäre, würde ich im Abendblatt zwei Spalten darüber gebracht haben. Aber so bin ich ganz unfähig, erzähle die Sache anderen und muss untätig zusehen, wie sie sie ausschlachten. Wenn Sie aber diese rätselhafte Angelegenheit aufklären, Mr Holmes – ich kenne Ihren Namen –, habe ich eine hinreichende Entschädigung für meinen Bericht.«
Holmes setzte sich und hörte zu.
»Der springende Punkt bei der ganzen Sache scheint mir die Napoleonbüste zu sein, die ich vor etwa vier Monaten für dieses Zimmer angeschafft habe. Ich erstand sie für billiges Geld bei den Gebrüdern Harding, die zwei Häuser von der Station High Street ihr Geschäft haben. Meine journalistische Tätigkeit nötigt mich, vielfach die Nacht über aufzubleiben, und ich
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