Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Benehmen verrieten mir, dass sie nicht ganz ergebnislos gewesen war, dass er wenigstens eine Spur gefunden haben musste.
»Nun?«, fragte Lestrade.
Holmes zuckte die Achseln.
»Wir sind noch weit vom Ziel«, sagte er. »Immerhin – nun, immerhin haben wir einige Hinweise, denen wir folgen können. Der Besitz dieser Gipsbrocken war dem merkwürdigen Verbrecher mehr wert als ein Menschenleben. Das ist ein Punkt. Weiter besteht die auffällige Tatsache, dass er die Büste nicht im Haus oder unmittelbar davor zertrümmert hat, wenn es ihm überhaupt lediglich auf ihre Vernichtung angekommen ist.«
»Er ist wahrscheinlich von dem anderen Burschen überrascht worden und wusste kaum, was er tat.«
»Jawohl, das ist nicht unmöglich. Ich möchte aber doch nicht verfehlen, Ihr Augenmerk besonders auf die Lage dieses Grundstücks zu richten.«
Lestrade sah meinen Freund an.
»Das Haus ist nicht bewohnt; er wusste also, dass er in diesem Garten nicht gestört würde.«
»Allerdings, aber in dieser selben Straße liegt noch ein leeres Haus, an dem er vorbeimusste, um hierher zu kommen. Warum hat er die Büste nicht in jenem Vorgarten zerbrochen, musste doch jeder Schritt weiter die Gefahr, gesehen zu werden, erhöhen?«
»Ich bin am Ende meiner Weisheit«, antwortete Lestrade.
Holmes deutete auf die Straßenlaterne über uns.
»Hier konnte er sehen, dort nicht. Das wird wohl der Grund gewesen sein.«
»Wirklich! Das ist richtig«, sagte Lestrade. »Nun fällt mir auch wieder ein, dass Dr. Barnicots Büste in der Nähe der Lampe zerschlagen worden ist. Aber was schließen Sie aus diesem Umstand, Mr Holmes?«
»Man darf ihn nicht vergessen – muss ihn stets im Auge behalten. Vielleicht werden wir im späteren Verlauf der Sache darauf zurückkommen müssen. Welche Schritte beabsichtigen Sie nun weiter zu tun, Mr Lestrade?«
»Am besten wird es meiner Ansicht nach sein, zunächst die Leiche zu identifizieren. Das wird keine Schwierigkeiten machen. Wenn wir dann wissen, wer er ist und wer seine Genossen sind, werden wir auch leicht herausbekommen, was er vergangene Nacht in der Pitt Street getan hat, mit wem er hier zusammengestoßen ist und wer ihn auf der Treppe des Mr Harker erstochen hat. Meinen Sie das nicht auch?«
»Das hört sich nicht übel an; aber doch ist es nicht genau der Weg, den ich einschlagen würde, um der Sache auf den Grund zu kommen.«
»Wie würden Sie’s denn machen?«
»Oh, lassen Sie sich durch mich in keiner Weise beeinflussen! Es ist besser, wenn jeder von uns seinen eigenen Weg geht. Wir können dann hinterher vergleichen und einander ergänzen.«
»Gut«, sagte Lestrade.
»Wenn Sie in die Pitt Street zurückgehen und Mr Harker sehen, können Sie ihm sagen, ich wäre zu dem sicheren Schluss gelangt, dass ein gefährlicher, blutdürstiger Irrsinniger mit Napoleon-Wahnvorstellungen ihm nachts einen Besuch abgestattet hätte. Er kann dieses Urteil in seinem Artikel gut verwerten.«
Lestrade sah Holmes erstaunt an.
»Das ist doch nicht Ihre ernstliche Überzeugung?«
Mein Freund lächelte.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf alle Fälle wird sie für Mr Harker und die Abonnenten des ›Central Press Syndicate‹ interessant sein. Nun, lieber Watson, wir wollen aufbrechen. Wir haben heute ein langes und ziemlich anstrengendes Tagewerk vor uns. Sie, Mr Lestrade, würde ich gerne, wenn Sie’s irgendwie möglich machen können, heute Abend um sechs Uhr in der Baker Street wieder sprechen. Bis dorthin möchte ich die Fotografie, die bei dem Toten gefunden worden ist, bei mir behalten. Möglicherweise muss ich Sie um Ihr Geleit zu einer kleinen Expedition in der kommenden Nacht ersuchen. Wenn sich meine Vermutungen als richtig erweisen, wird es sich nicht umgehen lassen. Bis dahin, adieu und viel Glück!«
Sherlock Holmes und ich wanderten zusammen in die High Street, wo wir den Laden der Gebrüder Harding besuchten, von denen die Büste gekauft worden war. Ein junger Mann erklärte uns, dass Mr Harding erst am Nachmittag wieder ins Geschäft zurückkehren würde und er selbst nicht in der Lage sei, uns Aufschluss zu geben, weil er erst vor Kurzem eingetreten sei. Holmes war anfangs etwas verstimmt, dann sagte er aber:
»Nun ja, Watson, wir können nicht erwarten, dass alles gleich nach Wunsch geht. Wir müssen eben am Nachmittag wieder nachfragen. Wie Sie ohne Zweifel bereits geahnt haben werden, bin ich im Begriff, den Ursprung dieser Büsten zu ermitteln. Auf diese Weise könnte
Weitere Kostenlose Bücher