Sherlock Holmes in Dresden
habe mit der Tabakwarenbranche zwar nicht das große Los gezogen, aber immerhin ernährt sie ihren Mann. Schon das Sprichwort sagt nämlich treffend: ›Und ist der Handel noch so klein, bringt er doch mehr als Arbeit ein.‹ Außerdem wird es hier auf dem Leipziger Hauptbahnhof nie langweilig. Es gibt immer viel zu sehen. Neulich erst…«
Holmes unterbrach abrupt den Redeschwall: »Später können Sie mir alles
en gros
und
en detail
[ 3 ] berichten. Mein Freund und ich müssen uns jetzt von dannen stehlen, um dem Schurken sein Handwerk zu legen. Da er es augenscheinlich auf uns beide abgesehen hat, kann dies nur gelingen, wenn wir ihm unsere weitere Anwesenheit an diesem Ort hier vortäuschen. Ein einfacher Kniff wird uns helfen. Wir lassen Ihnen unsere Kopfbedeckungen zurück. Sie sollen als Ablenkungsmanöver dienen.« Mit diesen Worten schleuderte er seinen karierten Deerstalker durch die offene Tür zu einem Garderobenständer im Inneren des Pavillons. Ich ließ meinen steifen Coke folgen. Auf Jahrmärkten war ich früher ein Meister im Ringwerfen gewesen, und Holmes als geschickter Degenfechter besaß ebenfalls eine sichere Hand und ein scharfes Auge. Beide Hüte fanden problemlos ihr Ziel und baumelten sogleich an den nach oben gebogenen Stangen.
Holmes setzte fort: »Sie müssen nichts weiter tun, als von Zeit zu Zeit den Kleiderständer von der einen Ecke in die andere zu schieben, und zwar hübsch vorsichtig am Fußoden aus der Deckung heraus. Solange sich die Menschenmenge nicht zerstreut hat, können wir den Attentäter sicherlich auf diese Weise täuschen. Mein Deerstalker ist nämlich in Deutschland nie in Mode gekommen und deshalb ein recht markantes Erkennungszeichen. Falls als Folge unserer Scharade noch weitere Fensterscheiben zu Bruch gehen sollten, stehen wir selbstverständlich für Ihren Schaden gerade. Allerdings müssen Sie mir feierlich versprechen, nicht aus falsch verstandener Solidarität heraus Ihre Nase zu weit nach oben zu recken.«
»Großes Wandervogel-Ehrenwort!«, versicherte der ehemalige Gendarm. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, müssen Sie dieser berühmte englische Detektiv sein, über den es schon mehrere Romane gibt und der auf den Bucheinbänden eine ebensolche Mütze wie Sie trägt.«
»Was wahr ist, muss wahr bleiben. Später mehr davon. ›Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehen.‹ [ 4 ] Jetzt müssen wir uns unbemerkt entfernen.«
Ich sah mich um. Von der Rückfront des Pavillons aus, dort, wo wir uns momentan befanden, bis hin zur nächsten Treppe, die hinunter zur Eingangshalle des Westflügels führte, waren es gut und gerne fünfzig Yards. Mehr als die Hälfte der Strecke würden wir ohne jegliche Deckung sein. Nun ist es zwar sehr schwer, mit einem Zielfernrohr ein sich schnell bewegendes Objekt ins Visier zu nehmen, aber einem guten Scharfschützen konnte auch dies gelingen. Er musste sich dazu einen Zielpunkt suchen, der ein hübsches Stück entfernt lag, einen kühlen Kopf bewahren und dann kurz vorher im rechten Moment abdrücken, sodass ihm sein Opferdirekt in die Schusslinie lief. Das war so ähnlich wie beim Tontaubenschießen. Hinzu kam, dass ich mit meinen einundsechzig Lenzen nicht mehr der Schnellste und schon gar nicht mehr der Wendigste war. Auch Holmes zweifelte ganz offensichtlich an der Durchführbarkeit unseres Vorhabens, wie ich seiner angespannten Miene entnehmen konnte. Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht. Jedenfalls wollte mir keine einfallen.
Carl Ahlersmeyer half uns aus der Bredouille. »Hinter dem Tresen gibt es eine Bodenklappe. Eine schmale Stiege führt hinab zu meinem Lagerraum, der von einem unterirdischen Korridor aus beliefert wird. Dieser Versorgungstrakt wiederum mündet in eine dem Publikum zugängliche Unterführung, welche sämtliche Bahnsteige miteinander verbindet. Diesem Fußgängertunnel müssen Sie nach rechts folgen, dann kommen Sie direkt zur Baustelle der Osthalle. Hier haben Sie die Schlüssel für Zwischentüren. Bitte vergessen Sie nicht, hinter sich abzusperren. In den Katakomben treibt sich schon vom ersten Tag an reichlich viel lichtscheues Gesindel herum. Die bewaffnete Bahnwacht auf ihren regelmäßigen Patrouillengängen kann kaum Herr der Lage werden.«
Wir taten, wie uns geheißen, und eilten durch das nur spärlich beleuchtete Tunnelsystem. Bei unserem letzten Besuch in Leipzig drei Jahre zuvor [ 5 ] war der Hauptbahnhof noch eine Baugrube gewesen. Seit 1912
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