Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
gekommen und schüttelte die Hand meines Freundes mit großer Herzlichkeit. »Das ist wirklich gut, daß Sie gekommen sind«, sagte er, »ich habe alles unberührt gelassen.
»Ausgenommen das da!« sagte mein Freund und zeigte auf den Weg. »Wenn eine ganze
Herde von Elefanten darüber gezogen wäre, hätten sie nicht mehr anrichten können. Aber natürlich haben Sie, Gregson, sich den Weg vorher gut angesehen und ihre Schlüsse
gezogen.«
»Ich hatte im Haus soviel zu tun«, verteidigte sich der Detektiv. »Mein Kollege Lestrade ist hier. Ich hatte mich darauf verlassen, daß er das übernehmen würde.«
Holmes sah mich an und zog die Augenbrauen spöttisch hoch. »Wenn zwei tüchtige Leute
wie Lestrade und Sie hier arbeiten, dann gibt es wohl für einen dritten nichts mehr
herauszufinden«, sagte er.
Gregson rieb sich selbstzufrieden die Hände. »Ich glaube, wir haben getan, was wir konnten«, sagte er. »Aber es ist ein schwieriger Fall und ich weiß, daß Sie Geschmack an so etwas haben.«
»Sind Sie mit der Droschke hergekommen?« fragte Holmes.
»Nein, Sir.«
»Lestrade auch nicht?«
»Nein, Sir.«
»Lassen Sie uns hineingehen und und das Zimmer ansehen.« Mit dieser unlogischen
Bemerkung schritt er ins Haus, gefolgt von Gregson, dessen ganze Gestalt Erstaunen
ausdrückte.
Ein kurzer Flur, teppichlos und staubig, führte in die Küche und zu den anderen
Arbeitsräumen. Zwei Türen führten nach links und zwei nach rechts. Eine von ihnen war, wie es schien, seit Wochen verschlossen. Die andere Tür führte ins Eßzimmer. In diesem Zimmer war der geheimnisvolle Unfall geschehen. Holmes ging hinein und ich folgte ihm mit den bedrückenden Gefühlen, die sich einem in der Nähe des Todes aufdrängen.
Es war ein großer, rechteckiger Raum, der noch größer wirkte, weil er völlig unmöbliert war.
Eine billige, bunte Tapete an den Wänden wies große Stellen von Stockflecken auf. An
mehreren Stellen hatten sich die Bahnen gelöst und hingen in großen Fetzen herunter und gaben den Blick auf die nackte, gelbe Wand frei. Gegenüber der Tür befand sich ein
aufwendiger
Kamin mit einem Aufsatz aus imitiertem weißen Marmor. Das einzige Fenster war so
schmutzig, daß das Licht gedämpft und trüb hereinkam und dem Zimmer Grauen und
Düsternis verlieh. Die dicke Staubschicht, die auf allem lag, verstärkte diesen Eindruck noch.
Alle diese Eindrücke nahm ich allerdings erst später wahr. Im Augenblick war meine ganze Aufmerksamkeit auf die einzelne, grausige Gestalt gerichtet, die ausgestreckt auf dem
nackten Holzfußboden lag und deren leere, tote Augen zu der verfärbten Zimmerdecke
gerichtet waren. Es war die Gestalt eines Mannes, drei- oder vierundvierzig Jahre alt, mittelgroß und breitschultrig, mit krausgelocktem schwarzem Haar und einem kurzen,
borstigen Bart. Er trug einen Frack aus schwerem Tuch und eine Weste, dazu eine hellere Hose, einen sauberen Kragen und Manschetten. Ein Zylinderhut, der ordentlich und gut
ausgebürstet war, lag neben ihm auf dem Boden. Seine Hände waren geballt und die Arme
weit vom Körper gestreckt. Die Beine waren ineinanderverkrampft und zeugten von einem
schweren Todeskampf. Auf dem harten Gesicht stand noch der Ausdruck von Schrecken und, wie es mir schien, von Haß. Einen solchen Haß hatte ich noch nie auf einem menschlichen Gesicht gesehen. Die furchtbar unnatürlich verzerrten Glieder, die niedrige Stirn, die flache Nase und das breite Kinn gaben dem toten Mann ein affengleiches Aussehen, das noch von seiner verrenkten und verzerrten Lage unterstrichen wurde. Ich habe den Tod in vielerlei Gestalt gesehen, aber niemals war er mir in einer so grausigen Form erschienen, wie in diesem unfreundlichen, dunklen Haus, von dem aus man einen Blick auf die Hauptadern der Londoner Innenstadt hat.
Lestrade, mager und rattengleich wie immer, stand an der Tür und begrüßte meinen
Kameraden und mich.
»Dieser Fall wird einiges aufrühren, Sir«, sagte er. »Es übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe. Und ich bin kein Feigling.«
»Es gibt keinen Hinweis«, sagte Gregson.
»Absolut keinen«, fiel Lestrade ein.
Sherlock Holmes näherte sich der Leiche und kniete nieder, um sie aufmerksam zu
untersuchen. »Sind Sie sicher, daß er keine Wunden hat?« fragte er und wies auf die vielen Blutspritzer und Flecken um ihn herum.
»Absolut sicher«, riefen beide Detektive.
»Dann stammt das Blut von jemand anders, vermutlich von dem Mörder, falls hier
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