Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
hätte ich mir nicht die Wände noch einmal genau angesehen.«
Die Augen des kleinen Mannes glänzten, während er sprach. Ganz offensichtlich war er in einem Zustand unterdrückter Erregung, weil er einen Punkt gegen seinen Kollegen gewonnen hatte.
»Kommen Sie her«, sagte er und ging geschäftig zurück in das Zimmer, dessen Atmosphäre nun, nachdem der grausige Bewohner entfernt worden war, nicht mehr so bedrückend war.
Er strich ein Streichholz an seinem Stiefel an und hielt es gegen die Wand.
»Sehen Sie!« sagte er triumphierend.
Ich habe schon erwähnt, daß sich die Tapete an einigen Stellen von der Wand gelöst hatte. In dieser Zimmerecke war ein großes Stück heruntergekommen, dahinter zeigte sich die nackte, rauhverputzte Wand. Über diese kahle Stelle war in blutroter Farbe ein einziges Wort
geschrieben - RACHE.
»Was halten Sie davon?« rief der Detektiv mit der Miene eines Schaustellers, der seine Ausstellung zeigt. »Dies wurde übersehen, weil hier die dunkelste Ecke des Raumes ist.
Niemand hat daran gedacht, sie zu untersuchen. Der Mörder hat es mit seinem (oder ihrem) eigenen Blut geschrieben. Sehen Sie sich diesen Blutfleck an, der von der Wand
heruntergetropft ist. Jedenfalls schließt das den Gedanken an Selbstmord aus. Aber warum wurde gerade diese Ecke gewählt, um dies hier zu schreiben? Das will ich Ihnen sagen. Sehen Sie die Kerze da auf dem Kamin? Sie war zu der Zeit angezündet. Und wenn die Kerze
brennt, ist diese Ecke nicht die dunkelste, sondern die hellste Stelle des Zimmers. «
»Und was soll dieser Fund nun bedeuten?« fragte Gregson verächtlich.
»Bedeuten? Wieso, es bedeutet natürlich, daß der Schreiber dabei war, den Namen Rachel zu schreiben, aber gestört wurde, bevor er zu Ende schreiben konnte. Sie werden sich an meine Worte erinnern. Wenn dieser Fall erst aufgeklärt ist, werden Sie sehen, daß eine Frau namens Rachel eine Rolle darin gespielt hat. Sie können ruhig lachen, Mr. Sherlock Holmes. Sie mögen tüchtig und klug sein, aber am Ende ist der alte Hund immer noch der beste.«
»Also, ich muß mich wirklich entschuldigen«, sagte mein Kamerad, der dem kleinen Mann
ein bißchen die Laune verdorben hatte, indem er in ein explosionsartiges Gelächter
ausgebrochen war. »Sie haben die Ehre, dies da als erster herausgefunden zu haben. Wie Sie ganz richtig sagen, sieht es so aus, als habe jemand, der gestern abend hier war, dies geschrieben. Ich hatte noch keine Zeit, mir das Zimmer genau anzusehen. Aber wenn Sie
erlauben, werde ich es jetzt tun.«
Er hatte inzwischen ein Maßband aus der Tasche gezogen und dazu ein großes, rundes
Vergrößerungsglas. Mit diesen beiden Hilfsmitteln bewegte er sich geräuschlos im Zimmer herum, hielt manchmal an, kniete öfters nieder und einmal legte er sich sogar flach auf den Bauch. Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er unsere Anwesenheit ganz vergessen zu haben schien. Er sprach die ganze Zeit über leise vor sich hin, dies wirkte wie ein kleines Feuerwerk von Ausrufen, Stöhnen und Pfeifen und kleinen Aufschreien von Vermutungen
und Hoffnungen. Wie ich ihn so beobachtete, sah ich mich unweigerlich an einen
reinrassigen, gut ausgebildeten Jagdhund erinnert, der im Jagdgebiet hin und her schießt und vor Aufregung heult, bis er die verlorene Fährte wiedergefunden hat. Mindestens zwanzig Minuten verwandte er auf seine Untersuchungen. Er maß mit genauer Sorgfalt die
Entfernungen zwischen Spuren aus, die für mich total unsichtbar waren. Gelegentlich legte er sein Maßband zwischen Punkten an, die ich nicht verstehen konnte. An einer Stelle fegte er sorgfältig ein kleines Häuflein grauen Staubes vom Boden auf und verwahrte es in einem Briefumschlag. Schließlich untersuchte er mit einem Vergrößerungsglas das Wort an der
Wand, indem er jeden einzelnen Buchstaben mit großer Genauigkeit betrachtete. Schließlich war er fertig. Er schien zufrieden und steckte Maßband und Vergrößerungsglas in die Tasche zurück.
»Man sagt, daß Sorgfalt die Mutter des Genies ist«, bemerkte er lächelnd. »Es ist schlecht ausgedrückt, paßt aber auf die Arbeit eines Detektivs.«
Gregson und Lestrade hatten das Manöver ihres Amateurkollegen mit Neugier und Mißgunst verfolgt. Ganz offensichtlich konnten sie die Verfahrensweise nicht richtig einschätzen, die mir langsam klar wurde. Sie machten sich nicht klar, daß selbst die kleinste Kleinigkeit, die Sherlock Holmes tat, wichtig für das Endergebnis
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