Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
ein Mord geschehen ist. Es erinnert mich an die Begleitumstände bei dem Tod von Van Jansen in
Utrecht im Jahre 1834. Erinnern Sie sich an den Fall, Gregson?«
»Nein, Sir.«
»Dann lesen Sie ihn nach. Das sollten Sie wirklich tun. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.«
Während er sprach, waren seine sensiblen Hände hierhin und dorthin geflogen, waren überall, drückten, fühlten, knöpften auf, untersuchten. Seine Augen jedoch hatten den gleichen
abwesenden Ausdruck, den ich vorher schon wahrgenommen hatte. So schnell fand diese
Untersuchung statt, daß man kaum glauben konnte, daß sie wirklich sehr gründlich ausgeführt worden war. Schließlich roch er an den Lippen des Toten und besah sich die Sohlen der
Lacklederstiefel.
»Ist er wirklich nicht berührt worden?« fragte er.
»Nicht mehr, als was zum Zwecke der Untersuchung notwendig war.«
»Sie können ihn jetzt in die Leichenhalle bringen. Hier gibt es jetzt nichts, was wir noch herausfinden könnten.«
Gregson hatte eine Bahre und vier Träger in der Nähe. Auf seinen Ruf kamen sie in den
Raum, der Fremde wurde auf die Bahre gehoben und hinausgetragen. Als sie ihn jedoch
hochhoben, fiel ein Ring herunter und rollte über den Boden. Lestrade griff nach ihm und starrte ihn mit ratlosen Augen an.
»Es muß eine Frau hiergewesen sein«, rief er, »es ist der Ehering einer Frau.«
Während er sprach, hatte er den Ring auf die Innenfläche seiner ausgestreckten Hand gelegt.
Wir alle drängten uns um ihn und blickten darauf. Es konnte gar kein Zweifel daran bestehen
— dieser Goldreif hatte einmal den Finger einer Braut geziert.
»Das macht die Sache noch schwieriger«, seufzte Gregson, »und der Himmel weiß, daß sie vorher schon schwierig genug war.«
»Sind Sie sicher, daß es die Sache nicht eher vereinfacht?« meinte Holmes. »Wir werden nichts herausfinden, wenn wir weiter so auf den Ring starren. Was haben Sie in seinen
Taschen gefunden?«
»Hier ist alles«, sagte Gregson und wies auf einen kleinen Haufen von Dingen auf der
untersten Stufe der Treppe. »Eine goldene Uhr, Nr. 97163, von Barraud London, goldene
Uhrkette, sehr schwer und solide, ein goldener Ring mit Freimaurersymbol, eine goldene Nadel mit dem Kopf einer Bulldogge, die Augen aus Rubinen hatte, ein Täschchen aus
russischem Leder für die Visitenkarten mit dem Namen >Enoch J. Drebber, Cleveland<, der mit der Zeichnung der Wäsche >E.J.D.< übereinstimmte. Und etwa sieben Pfund und 13
Schillinge Kleingeld.«
Weiterhin fanden wir eine Taschenbuchausgabe von Boccaccios >Decamerone<, die den Namen Joseph Stangerson auf der ersten Seite trug, zwei Briefe, einen adressiert an E.J.
Drebber und den anderen an Joseph Stangerson.«
»An welche Adressen?«
»American Exchange, Strand, hinterlegt, um abgeholt zu werden. Beide Briefe sind von der Guion Dampfschiffahrtsgesellschaft und beziehen sich auf die Abfahrt ihres Schiffes von Liverpool. Es ist klar, dieser unglückliche Mensch war auf seiner Rückreise nach New York.«
»Haben Sie sich nach diesem Mr. Stangerson erkundigt?«
»Das ist sofort geschehen, Sir«, sagte Gregson. »Ich habe eine Anzeige in allen Zeitungen aufgegeben und einer meiner Männer ist zum amerikanischen Exchange gegangen, aber er ist noch nicht zurückgekehrt.«
»Haben Sie sich mit Cleveland in Verbindung gesetzt?«
»Wir haben heute morgen telegraphiert.«
»Was haben Sie Ihnen über den Stand Ihrer Untersuchungen gesagt?«
»Wir haben Ihnen die Umstände in allen Einzelheiten mitge-
teilt und hinzugefügt, daß wir für weitere Informationen dankbar sein werden. Dies alles wird uns sicherlich weiterhelfen.«
»Haben Sie nach irgendwelchen Einzelheiten gefragt, die Ihnen aufschlußreich und wichtig erschienen sind?«
»Ich habe mich nach Stangerson erkundigt.«
»Weiter nichts? Gibt es keine Anhaltspunkte, an denen man den ganzen Fall aufhängen
könne? Möchten Sie nicht noch einmal telegraphieren?«
»Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte«, sagte Gregson in beleidigtem Ton.
Sherlock Holmes lachte in sich hinein. Es schien, als wollte er gerade zu einer Bemerkung ansetzen, als Lestrade wieder auf der Szene auftauchte und die Hände selbstgefällig in einer etwas pompösen Weise rieb. Er war in dem vorderen Zimmer gewesen, während wir uns in
der Halle unterhielten.
»Mr. Gregson«, sagte er, »ich habe da soeben eine Entdeckung gemacht, die von größter
Wichtigkeit ist. Noch dazu wäre sie völlig übersehen worden,
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