Sherlock Holmes und das Druidengrab
unablässig an der Bordwand des Dampfers, während wir von Wellental zu Wellental schlingerten. Wie üblich hatte mich Holmes zu einer wahrlich unchristlichen Zeit geweckt – wie immer, wenn ihn ein Problem besonders beschäftigte, befand er es nicht für nötig auf den Tag-Nacht-Rhythmus anderer auch nur die geringste Rücksicht zu nehmen. In aller Herrgottsfrühe hatten wir die Kutsche nach Dover genommen und wenig später zur Überquerung des Ärmelkanals mit der ersten Fähre angesetzt. Holmes war während der gesamten Fahrt ziemlich einsilbig gewesen und so drängte ich ihn nicht weiter; doch langsam aber sicher interessierte es mich schon, wohin wir unterwegs waren. Ich blickte von meiner Tasse Earl Grey auf und sah meinem Freund ins Gesicht. Er lächelte.
„Nun reden Sie doch schon, Holmes! Spannen Sie mich nicht immer so auf die Folter. Ich denke, der Umstand, dass Sie mich vor fünf Uhr aus dem Bett geholt haben, gibt mir ein gewisses Anrecht darauf zu erfahren, wohin wir unterwegs sind.“
„Nur die Ruhe, mein lieber Watson. Genießen Sie erst einmal Ihr Frühstück. Sie müssen verzeihen, aber Sie sahen zuvor so müde aus, dass ich es nicht für angemessen hielt, Sie mit meinen Gedankengängen zu belasten; zumal ich bezweifle, dass viel davon Ihr in Morpheus’ Armen liegendes Bewusstsein erreicht hätte.“
„Was meinen Bewusstseinszustand angeht, so hat sich dieser nun vollkommen an die grausame Realität des frühen Morgens gewöhnt, und ich bin durchaus dazu bereit zu erfahren, um was es sich diesmal handelt.“
„Nun gut, mein Lieber. Wir werden, sobald wir in Calais angekommen sind, den Zug nach Saint-Lô nehmen. Vor wenigen Stunden erhielt ich das Telegramm eines Bekannten aus Genf, den ich kurz nach den Vorfällen in Meiringen unter höchst tragischen Umständen kennengelernt habe. Der bereits vor einigen Tagen eingetroffene Brief sowie der Inhalt des Telegramms ließen keinen Aufschub der Abreise zu. Überzeugen Sie sich selbst davon.“
Er zog einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Westentasche und hielt ihn mir auffordernd entgegen.
Mon cher Monsieur Holmes,
es ist mir in höchstem Maße eine Last, mich unter solch widrigen Umständen bei Ihnen zu melden und Ihre Hilfe zu erbitten. Seit dem schrecklichen Zugunglück in Münchenstein ging es mit meinem Büro stetig bergauf, da bewiesen werden konnte, dass keinerlei Verschulden unsererseits vorlag, was Konstruktion und Aufbau der Brücke betrifft. Der Grund war vielmehr ein ungewöhnlich heftiges Hochwasser, welches – wie die Untersuchungen der Basler Polizei ergaben – Teile der Pfeiler unterspült hatte. Da wir als Architekturbüro lediglich für die Stahlkonstruktion zuständig waren, trifft uns keine Schuld. Der Schaden an meiner Reputation ist vergleichsweise gering. Just aber, da wir erneut einen enormen Auftragseingang verzeichnen und sich einer meiner besten Ingenieure im Urlaub befindet, erhalte ich Briefe, deren Inhalt mich an die Tragödie erinnert und deren Absicht wohl keine andere sein kann, als in mir ein Gefühl zu wecken, das ich zutiefst verabscheue. Ich habe Angst, dass sich die Ereignisse von damals wiederholen könnten. Ich fürchte um meinen Ruf und die Sicherheit, ja gar das Leben von Menschen, wenn herauskommen sollte, dass eine reale Gefahr droht. Ich bitte Sie hiermit um freundschaftlichen Rat in dieser Angelegenheit.
Mit vorzüglicher Hochachtung, G.E.
PS: Anbei finden Sie eine Abschrift der Nachrichten, die mich zu diesem Schreiben bewogen haben.
Als Holmes merkte, dass ich zu Ende gelesen hatte, räusperte er sich und begann eine Strophe des Gedichtes zu rezitieren, die bei dem Architekten solch unangenehme Emotionen hervorgerufen hatten.
„Auf der Norderseite, das Brückenhaus –
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu;
denn wütender wurde der Winde Spiel,
und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
erglüht es in niederschießender Pracht überm Wasser unten ... und wieder ist Nacht.“
„Die Strophe eines deutschen Gedichts?“
„Theodor Fontane. Er berichtet in dieser Ballade über den Zusammensturz der Firth-of-Tay-Brücke am 28. Dezember 1879. Das Unglück dürfte Ihnen noch in lebhafter Erinnerung sein, die Zeitungen waren damals voll von Meldungen über das grauenhafte Ereignis.“
„Allerdings. Beinahe hundert Tote an der Zahl, ein ganzer Zug von den Fluten der Nordsee verschluckt und ein
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