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Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Titel: Sherlock Holmes und das Phantom der Oper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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hatte die Carmen 1875 für die Opéra Comique geschrieben, wo ihre Premiere ein succès de scandale gewesen war. Der unglückliche Verfasser starb nur drei Monate später im Alter von fünfunddreißig Jahren. Drei Monate nach seinem Tod hatte sein Meisterwerk in Wien Triumphe gefeiert und war von dort aus um die ganze Welt gegangen. Paris hatte Carmen zehn Jahre lang den Rücken zugekehrt, als könnte man das sensationelle Stück dadurch, daß man es ignorierte, von der Bildfläche verschwinden lassen. Dafür bestand allerdings nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, da doch so ungleiche Persönlichkeiten wie Brahms, Tschaikowsky, Nietzsche und Wagner – Männer, die einander nicht ausstehen konnten – standhaft für den genialen George Bizet eintraten. Alle stimmten sie darin überein, daß Bizets Musik die blutrünstige Geschichte einer diebischen und schließlich von ihrem eifersüchtigen Liebhaber grausam erstochenen Zigeunerin aus dem Banalen heraushob und zu wahrer Kunst geführt hatte. Als die Franzosen sich schließlich an ein Stück wagten, das mittlerweile zur beliebtesten Oper geworden war, die je geschrieben worden war, beharrten sie jedoch darauf, den gesprochenen Dialog daraus zu streichen, und ein gewisser Ernest Guiraud, ein ›Freund‹ des verstorbenen Komponisten, wurde damit beauftragt, diese ›abstoßenden‹ Passagen durch Rezitativ zu ersetzen. Dieser kitschige Ersatz war es, der Bizets Werk nun als ›große Oper‹ auswies. Daher also ihre verspätete Aufnahme in das Repertoire des Palais Garnier.
    All diese Dinge rief ich mir ins Gedächtnis, während ich die Noten des Vorspiels las. Auf diese Weise hoffte ich, das Herzklopfen, das meine Brust erschütterte, ein wenig verringern zu können. Irene Adler! Können Sie sich das vorstellen, Watson? Dieses Geschöpf, das ich vor vielen Jahren zum letzten Mal gesehen zu haben glaubte, kehrte nun zurück wie Lazarus. Was zum Teufel tat sie hier? War sie nicht verheiratet und hatte sich von der Bühne zurückgezogen? Offensichtlich nicht. Es wäre schon schlimm genug gewesen, diese Frau unter normalen Umständen wiederzusehen, aber sie hier auf dieser Bühne zu finden, machte meine Verwirrung und meine Schwierigkeiten nur um so schlimmer. Es war mir – bis zu diesem Augenblick jedenfalls – gelungen, mir ein neues Leben aufzubauen, und dieses Leben war jetzt durch das Erscheinen meiner alten und erfolgreichen Widersacherin bedroht.
    Wie konnte ich ihr aus dem Weg gehen? Mit einer Krankmeldung? Das schien mir ein schlechter Rat zu sein; ich hatte schließlich erst vor kurzem meinen Dienst angetreten, und Maître Leroux würde eine Abwesenheit, die die ganze Spielzeit über dauerte, kaum dulden.
    Während ich spielte, wurde ich langsam ruhiger. Ich kam zu dem Schluß, daß es mir möglicherweise gelingen würde, ihr völlig aus dem Weg zu gehen: Von der Bühne aus konnte Miss Adler nicht in den Orchestergraben sehen, und außerdem lagen die Umkleideräume der Sänger – achtzig an der Zahl! – nicht in der Nähe derjenigen des Orchesters.
    Schon bald tauchten wir jedoch in die ›Habañera‹ ein, und eine neue Qual bemächtigte sich meiner. Ich hatte natürlich Berichte über Miss Adlers Stimme gehört – sie wurde an der Scala ebenso gefeiert wie in Warschau –, aber bisher kannte ich ihren Gesang eben nur vom Hörensagen. Jetzt, da ich ihn mit eigenen Ohren vernahm, konnte ich nicht umhin festzustellen, daß die Kritiker ihre Begabung weit unterschätzt hatten. Zu sehr hatten sie sich auf ihre Schönheit konzentriert und dabei, vielleicht auch aus Unvermögen, versäumt, die Fülle und den Reichtum ihrer Kunst zu beschreiben. Sie galt als Altistin, war in Wahrheit jedoch ein Mezzosopran, was genau die Stimmlage war, für die die Carmen ursprünglich geschrieben wurde (obwohl die Sopranistinnen immer wieder versuchten, die Rolle mit Transponierung nach oben zu singen).
    Dies war eine Folterqual, wie sie selbst ein Torquemada nicht besser hätte ersinnen können. Unsichtbar unter ihr war ich gezwungen, dieser Sirenenstimme zu lauschen, während sie die Rolle einer Sirene spielte und Don José verführte, Tag für Tag in der Probe und Abend für Abend, wenn das Stück zur Aufführung kam, stets in dem Wissen, daß ihr Angebeteter sie am Ende ermorden würde.
    Die Premiere bot alles, wofür die Pariser Opéra stand, alles, was sie sich wünschen konnte. Die Zugaben waren endlos, und dieselben Pariser, die vor sechzehn Jahren noch

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