Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
Zeit, so schien es, spielte für sie keine Rolle. Sie war noch genauso schön wie auf dem Foto, das ich jahrelang in Ehren gehalten hatte und das nun in einsamer Pracht auf dem Kaminsims stand. Ihre Haut war noch immer so makellos wie Elfenbein und wies nun einen sanften, rosigen Ton auf; ihre glänzenden Augen strahlten mehr aus als nur Humor, sie waren wachsam und intelligent; ihr funkelndes Haar leuchtete auch heute noch wie poliertes Ebenholz. Sie war so schön, daß es beinahe weh tat, denn ich verspürte, während ich sie betrachtete, ein leichtes Pochen in meinen Schläfen. Sie wissen, wie selten ich unter Kopfschmerzen leide, Watson.
»Haben Sie nichts zu trinken für mich?«
»Ich fürchte, nein.« Ich starrte sie ungastlich an, aber sie erwiderte meinen Blick, ohne die Augen zu senken. »Bitte setzen Sie sich doch, Monsieur Sigerson. Wir haben viel zu besprechen.«
Ich sank in mein Sofa, völlig irritiert von der Tatsache, daß sie dieses Gespräch ganz und gar unter Kontrolle zu haben schien.
»Sie können sich meine Überraschung vorstellen«, begann ich in der Hoffnung, wieder Oberwasser zu gewinnen. »Ich stand schließlich unter dem Eindruck, daß Sie verheiratet seien und sich von der Bühnen zurückgezogen hätten.«
»Mr. Norton starb ein Jahr nach unserer Hochzeit an Influenza«, erwiderte sie mit leiser Stimme und wich meinem Blick für einen Moment lang aus. »Ich mußte aus finanziellen Gründen meine Karriere wieder aufnehmen.«
»Es tut mir leid, von Ihrem Verlust zu hören«, sagte ich und meinte es auch. Mir fiel auf, daß sie noch immer ihren Ehering trug. »Und es tut mir ebenfalls leid zu erfahren, daß Sie in finanziellen Schwierigkeiten sind.«
Diese Bemerkung quittierte sie mit einem philosophischen Schulterzucken wie jemand, der die Widrigkeiten des Schicksals kennengelernt und ihnen ins Auge gesehen hat.
»Mein Kopf ist immer noch über Wasser, wie wir in meiner Heimat sagen. * Und ich denke, daß ich noch ein paar gute Jahre vor mir habe«, fügte sie mit einer Pause hinzu, die mich zu einer Bemerkung einlud.
»Nach dem, was ich Tag um Tag zu hören bekomme«, erwiderte ich ernsthaft, »sehe ich noch kein Ende für Ihre Triumphe vor mir.«
»Sie sind zu freundlich.«
»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, woher Sie wissen, daß ich hier bin.«
Sie lächelte, und ihr Blick flog kurz zu ihrer Fotografie hinüber.
»Wissen Sie, womit sich eine Diva zwischen zwei Vorstellungen die Zeit vertreibt?«
»Sind Sie sicher, daß Sie es mir verraten wollen?«
Sie ignorierte die kleine Stichelei und betrachtete die Spitze ihrer Stiefel, während sie sie lässig hin und her wippen ließ. Meine Kopfschmerzen wurden schlimmer.
»Wir beide sind doch Männer von Welt, nicht wahr?« lachte sie. »Ich glaube, ich kann es wagen, Sie ins Vertrauen zu ziehen. Eine Diva sieht sich die fremde Stadt an, in der sie sich befindet. Sie besucht Denkmäler und Museen; sie geht in Kunstgalerien.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Vor einigen Tagen war ich in der Galerie du Monde«, erklärte sie mir, »und betrachtete eine Reihe von Pastellzeichnungen und Aquarellen von Monsieur Degas.«
»Aha?«
»Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich eine Reihe von Ballerinas in der Oper vor mir sah und Ihr Gesicht im Orchestergraben unter ihnen, wie Sie die Geige spielen!« *
Ich konnte sie nur mit offenem Mund anstarren. Als sie das sah, lachte sie abermals.
»Sie können sich vorstellen, wie schwer es mir fiel, das zu glauben. Degas ist schließlich, was man einen Impressionisten nennt. * Dennoch war die ›Impression‹ ganz und gar eindeutig. Wer könnte dieses markante Profil verkennen: die Adlernase, die Augen mit den schweren Lidern und die intellektuellen Brauen? Und wer könnte, wenn er Doktor Watsons Berichte gelesen hat, vergessen, wie gut Sie im Umgang mit Ihrer Stradivari sind? Als mir beim Betrachten dieses Bildes wieder einfiel, daß man Sie offiziell für tot erklärt hatte, lief mein Gehirn auf Hochtouren. Es konnte keinen Zweifel geben. Ich machte mir nicht die Mühe, herauszufinden, wie Sie in Monsieur Degas’ Zeichnung gelangt waren, und ebensowenig zog ich es in Betracht, Sie zu entlarven, denn ich hatte das Gefühl, daß ich schon sehr bald Ihrer Dienste bedürfen würde. Daher stellte ich lediglich ein paar diskrete Nachforschungen in der Opéra an, um Ihren Decknamen herauszufinden.«
»Ich habe meine eigenen Gründe, warum ich incognito bleiben
Weitere Kostenlose Bücher