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Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Titel: Sherlock Holmes und das Phantom der Oper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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Bizets derbe Bearbeitung des Romans von Prosper Merimée verschmäht hatten, bejubelten jetzt Miss Adlers Interpretation von Merimées urtypischer Zigeunerin. Ich hätte schwören können, daß sie mit ihren Bravo-Rufen und ihrem Beifall den Kronleuchter ins Wanken brachten. Und obwohl ich sie nicht sehen konnte, erinnerte mich ihre verführerische Stimme in der Titelrolle daran, daß ich es hier mit einer Schauspielerin sans pareil zu tun hatte. *
    Die Zuschauer leben in gnädiger Ignoranz, was das Chaos betrifft, das jeder Theaterproduktion vorangeht. Sie bleiben in segensreicher Weise im unklaren über verpaßte Stichwörter, abgebrochene Kulissenstützen, Mißverständnisse zwischen den Sängern und dem Dirigenten und der ganzen Anzahl geringfügiger Kalamitäten, die jede Vorstellung unweigerlich von der vorangegangenen unterscheiden. Es gibt einfach zu viele Dinge, die schiefgehen können, aber die hektischen Rufe und das wütende Flüstern hinter den Kulissen kommen denen, die nur die Musik hören wollten, kaum je zu Ohren.
    Ganz anders ging es uns Musikern im Orchestergraben. Während des zweiten Akts unserer ersten Carmen passierte irgend etwas hinter der Bühne, denn ich hörte während der zweiten Pause Schreie und Rufe. Da wir jedoch in den Umkleideräumen des Orchesters weit entfernt von der auf der anderen Seite des Theaters liegenden Quelle des Durcheinanders waren, erfuhren wir nicht, was sich dort ereignet hatte. Aus der Entfernung, und preisgegeben an einen Sturm miteinander wetteifernder Geräusche, war es unmöglich, herauszufinden, welche Bedeutung der Lärm hatte. Und bevor noch irgendwelche Gerüchte zu uns durchdringen konnten, ging die Oper weiter und verdrängte alle Spekulationen mit Macht aus meinem Bewußtsein, denn ich mußte mich der Musik und anderen drängenden Überlegungen widmen.
    Im Anschluß an die Vorstellung sollte es einen Empfang geben, bei dem wir alle erwartet wurden. Das war etwas, das ich um jeden Preis vermeiden mußte, da ich wußte, daß auch unsere Carmen dort sein würde. Bisher war es mir gelungen, ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen, und es war nichts geschehen, was mich zu einer Änderung dieses Arrangements bewogen hätte. Schon beinahe bevor der letzte Vorhang fiel, sprang ich daher förmlich von meinem Stuhl auf und entfloh. Normalerweise zog ich mich, nachdem ich wieder in meine Straßenkleidung geschlüpft war, mit Ponelle und manchmal auch Bela in eine nahe gelegene Bar auf der Rue Madeleine zurück, wo ich mir dann ein Sandwich und ein Glas Cognac gönnte, bevor ich mich auf den Heimweg machte; heute abend mußte ich mich solcher Kameradschaft enthalten. Noch im Abendanzug, hastete ich hinüber ins Marais, stürzte in einem Eck-Bistro einen Cognac hinunter und machte mich dann auf den Weg zu meiner Unterkunft, wo ich an die Decke zu starren plante.
    An meinem Ziel angekommen, traf ich auf einen großen, schlanken jungen Mann, der sich vor dem Gebäude herumtrieb. Auf dem Kopf trug er einen breiten Hut mit einer weichen Krempe, den er sich verwegen über ein Auge gezogen hatte.
    »Guten Abend, Monsieur Sigerson.«
    Ich wollte gerade mit einer gemurmelten Antwort an ihm vorbeihasten, als ich einen Fetzen der ›Sequidilla‹ aufschnappte, gesungen in einem kehligen Mezzosopran, der mich herumfahren ließ. Der junge Mann lachte, wobei er zwei Reihen vollkommener Zähne und blitzende, dunkle Augen sehen ließ. Es war Carmen persönlich.
    »Miss Adler!«
    »Wie ich sehe, sind Sie seit unserer letzten Begegnung scharfsinniger geworden.« *
    Ich sah mich vorsichtig in der dunklen Straße um.
    »Woher wissen Sie, daß ich hier bin?«
    »Diese und andere Fragen beantworte ich Ihnen gern, wenn Sie die Güte haben wollen, mich in Ihre Räumlichkeiten zu führen«, erwiderte sie und stieß sich von der Wand, an der sie gelehnt hatte, ab. »Kommen Sie«, fuhr sie fort, als sie mein Zögern bemerkte. »Sie haben nichts von mir zu befürchten. Ich bin und war immer ganz harmlos.«
    Statt mit ihr über diese Behauptung zu streiten, wo andere unsere Auseinandersetzung hätten mithören können, zog ich meinen Hausschlüssel heraus und ging mit ihr nach oben.
    In meiner dürftigen Behausung – die mir plötzlich beinahe erbärmlich erschien – warf Irene Adler ihren Hut beiseite, zog ihre Handschuhe aus, umkreiste das Zimmer wie eine Katze, setzte sich schließlich in einen Sessel – den einzigen – gegenüber meinem Sofa und schlug ihre behosten Beine übereinander.

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