Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
Einzelheiten wußte.
»Ich bin auf der anderen Straßenseite aufgewachsen, als das Haus im Bau war«, erklärte er mir und lächelte bei der glücklichen Erinnerung. »Nun ja, um genau zu sein, ein Stück die Straße hinunter – in dem Haus, in dem Alphonsine Plessis starb«, fügte er mit einem Anflug von Stolz hinzu. »Sie wissen schon, die Frau, auf die Verdi seine Oper stützte. * Die Bauarbeiten haben etwa im Jahre 1860 begonnen, nachdem der junge Garnier den Architekturwettbewerb gewonnen hatte. Wir Gassenkinder haben auch ein wenig mitgeholfen«, erinnerte er sich fröhlich. »Wir haben Eimer getragen und den Männern um die Mittagszeit ihre Brotbeutel gebracht und so weiter. Der Bau hat fünfzehn Jahre gedauert.«
»Fünfzehn!«
»Nun, man darf nicht die ganze Zeit rechnen, weil wir im Krieg waren und dann die Deutschen kamen. Bis zum heutigen Tage ist man hier sehr zurückhaltend, was Wagner betrifft.«
Stellen Sie sich meine Enttäuschung vor, Watson. Sie wissen, wie sehr ich Wagner liebe. Er hilft mir, mich selbst zu erkennen.
»Im Augenblick wird draußen, entlang der Rue Scribe, gegraben. Warum?« wollte ich von ihm wissen. »Noch mehr Operngebäude?« Er schüttelte den Kopf.
»Sie bauen dort ein unterirdisches Zugsystem – wie in England.«
Als Musiker aus dem Orchestergraben kam ich in der Regel kaum mit anderen Abteilungen der Oper in Kontakt. Ich ging an meinen Platz und teilte die Umkleideräume des übrigen Orchesters; sie lagen nicht in der Nähe der Räumlichkeiten der Solisten oder des Chors, und da ich von meinem Stuhl aus nur einen sehr eingeschränkten Blick auf die Bühne hatte, sah ich nur wenig von den Vorführungen und noch weniger von den Schauspielern.
Ich hatte jedoch an der Gerüchteküche teil, und dort brachte ich so manchen kleinen oder größeren Leckerbissen in Erfahrung. Jammes’ Mutter war eine herrische alte Vettel, aber Meg Giry war ›eine Persönlichkeit‹ und kümmerte sich um die Logen im Ersten Rang. Monsieur Mercier, der Bühnenverwalter, hatte eine Mätresse, deren blonde Lockenpracht äußerst suspekt war. Die Herren Debienne und Poligny, die beiden Direktoren (die ich, ohne es zu wissen, bei meinem Vorspiel hinter dem kleinen Holztisch gesehen hatte) würden sich in Kürze von ihrem Amt zurückziehen. Die Daaé hatte einen Bewunderer, angeblich handelte es sich dabei um den Vicomte de Chagny.
Der Geist hatte am vergangenen Abend wieder einmal mit Joseph Buquet gesprochen, dem Maschinenmeister (von dem es ebenfalls hieß, er sei in La Daaé verliebt).
Der Geist. Von allen seltsamen Geschichten und Tratschereien, die mir während dieser ersten beiden Wochen über den Weg liefen, war nichts so seltsam wie die gelegentlichen Anspielungen auf den Geist.
»Er ist praktisch eine Institution«, erklärte mir Ponelle. »Niemand scheint zu wissen, wo genau die ganze Sache eigentlich angefangen hat. Ich nehme an, das Gebäude ist so riesig und so gespenstisch da unten, daß die Vermutung einfach naheliegt, es könne hier spuken.
Es heißt auch, daß es da unten Leichen gebe«, fügte er mit einem respektvollen Unterton hinzu. »Aus den Tagen der Kommunarden, als dieses Haus als Gefängnis benutzt wurde.« *
»Dieses Gebäude wurde als Gefängnis benutzt?«
Er nickte feierlich. »Und sie haben die Leichen in den See geworfen.«
»Dann gibt es also tatsächlich einen See dort unten?« Ich war überrascht.
»Ich habe ihn zwar nie zu Gesicht bekommen, aber als man die Erde für das Fundament ausgehoben hat, stieß man plötzlich auf Wasser. Paris ist auf einem Sumpf erbaut, müssen Sie wissen – und dieses Wasser brachte das ganze Unternehmen zum Stillstand. Dann verfielen sie auf den glücklichen Notbehelf, das ganze Wasser vorübergehend abzupumpen, während der sumpfige Boden mit Beton und Bitumen gepflastert und die Pfähle für das Gebäude eingesetzt wurden. Anschließend ließen sie das Wasser wieder zurücklaufen, wodurch sich eine Art unterirdischer See bildete. Das Ganze hat über acht Monate gedauert«, informierte er mich voller Stolz. »Obwohl das natürlich nicht unbedingt heißt, daß es einen Geist geben muß«, schloß er mit einem geisterhaften Lächeln.
»So einfach ist die Sache nicht«, konterte Bela, der wie immer mit seiner dSaite kämpfte. »Es gibt Leute, die ihn gesehen haben. Es gibt Leute, die ihn gehört haben.«
»Pah. Aberglaube. Was für Leute? Wo?«
»Am Ende von Gängen; durch die Wände von Umkleidezimmern. Man sagt,
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