Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
erwecken, getroffen zu sein. Wenn das Opfer oder ein anderer Schauspieler fest an dem Griff ›zog‹, fuhr die Klinge, angetrieben von einer inneren Feder, wieder hinaus, und das Messer konnte aus der ›Wunde‹ entfernt werden.
In diesem Falle hatte sich die Klinge jedoch unerklärlicherweise geweigert, in ihren versteckten Schaft zurückzugleiten. Ihre Spitze hatte Miss Adler bereits gestreift, aber dank meines unorthodoxen Eingreifens war nichts Schlimmes geschehen.
»Es hat bei dem Messerkampf im dritten Akt noch ganz normal funktioniert«, rief Escamillo aus.
»Ich schwöre, Monsieur Mercier«, jammerte der Kulissenmeister, »niemand war auch nur in der Nähe meines Kulissentischs! Niemand!«
»Natürlich nicht, Léonard. Es war ein Unfall«, erklärte Mercier, der Verwalter, der sich mittlerweile an der Klinge zu schaffen gemacht hatte, so daß sie nicht mehr klemmte.
»Was war das, was sie gerufen hat?« wollte irgend jemand wissen. »Es klang wie –«
»Sie hat gefragt, ob ihr wohl jemand ein Glas Wasser holen könne«, dolmetschte ich barsch. In kürzester Zeit wurde ihr Wunsch erfüllt. Mit einiger Anstrengung half ich Miss Adler, sich aufzusetzen. Sie war noch immer totenblaß, und ihre Züge waren gezeichnet von einer Angst, die ich noch nie darauf gesehen hatte.
»Können Sie das trinken?« fragte ich sanft. Sie nickte und schluckte.
»Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte sie und holte mehrfach tief Luft.
»Wenn das stimmt, dann hat meine eigene Existenz einen Sinn gehabt.«
Sie schenkte mir einen kurzen Blick und ließ sich von mir auf die Füße helfen. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich im Zentrum der allgemeinen Neugier stand. Als es jedoch bereits anfing, für mich peinlich zu werden, wurde die Aufmerksamkeit Gott sei Dank von mir abgelenkt, weil der heroische Gerhardt Huxtable plötzlich beim Anblick von Miss Adlers Kratzwunde ohnmächtig zusammenbrach.
Leroux räusperte sich gewichtig und murmelte im Orchestergraben etwas davon, daß die heutige Probe beendet sei.
»Woher haben Sie gewußt, daß etwas mit dem Messer nicht stimmte?« wollte Bela von mir wissen, als wir unsere Instrumente wegschlossen.
»Lediglich ein sechster Sinn, Bela.«
»Aber –« begann Ponelle.
»Sie müssen mich entschuldigen«, unterbrach ich ihn, »ich komme bereits zu spät zu einer wichtigen Verabredung.«
Es war schon fast sechs Uhr, als ich endlich bei den neuen Direktoren der Opéra vorgelassen wurde. Moncharmin, muß man sagen, sah wenigstens wie ein Direktor aus , denn er war sehr groß und trug einen distinguierten Backenbart und einen gut gewachsten Knebelbart von derselben elfenbeinartigen Schattierung – eine trotzige Hommage an den verstorbenen Kaiser. Er hatte keine Ahnung von Musik und konnte keine Note von der anderen unterscheiden. Ponelle hatte nicht übertrieben, als er Operndirektoren im allgemeinen als Idioten bezeichnete. Richard dagegen ähnelte genau dem Buchhalter, der er zweifellos war, konnte jedoch zumindest eine gewisse Vertrautheit mit dem Repertoire für sich in Anspruch nehmen. Die Büros der neuen Direktoren schienen sich in nicht minder chaotischem Zustand zu befinden als zu der Zeit, da sie noch von ihren Vorgängern belegt worden waren. Die beiden Herren, bereits im Abendanzug, waren vollauf damit beschäftigt, eine Phalanx hektischer Sekretärinnen zu überwachen, die sich um die Verteilung der Eintrittskarten für den Maskenball der Oper kümmerten, ein Jahresereignis von höchster gesellschaftlicher Bedeutung, das bereits in zwei Tagen stattfinden sollte. »Und keine einzige Karte ist bisher zugestellt worden!« rief Moncharmin.
»Wofür wir allen Grund haben, dankbar zu sein«, gab Richard mißmutig zurück. »Wenn man bedenkt, an wen einige der Karten gehen sollten! Sie müssen verrückt gewesen sein«, fügte er hinzu, womit er, wie ich annahm, Debienne und Poligny meinte. Dann hielt er einen Briefumschlag hoch, als trage dieser irgendeine Seuche in sich. »Dies hier ist für den jüdischen Bankier de Reinach bestimmt.«
»Was stimmt nicht mit de Reinach?« wollte Moncharmin wissen, während er ungeduldig einen weiteren Stapel von Briefen durchstöberte. »Er hat jede Menge Geld.«
»Lesen Sie denn keine Zeitung? Er ist in den Panama-Skandal verwickelt!« *
Moncharmin richtete sich auf.
»Was Sie nicht sagen. Dann streichen Sie ihn von der Gästeliste.«
»Meine Herren«, sagte ich und hustete leise, um die beiden an meine Gegenwart zu
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