Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
diese Art von derbem Humor mag ja in Leedville genügen« – er schien an dem Wort beinahe zu ersticken – »in Paris wird so etwas allerdings nicht mehr hingenommen. In der Zwischenzeit werden Sie uns vielleicht vergeben, aber wir müssen vor dem heutigen Abend noch viel erledigen, und auch Sie werden gewiß mit Ihrer wertvollen Zeit etwas Besseres anzufangen haben.«
»Sie weigern sich also absolut, irgendeiner meiner dringenden Bitten nachzukommen?«
Sie sahen einander an, und nun konnte man auf ihren Gesichtern eine leise Spur von Verärgerung feststellen.
»Bitte danken Sie den Herren Debienne und Poligny für ihre Hartnäckigkeit«, sagte Richard und begleitete mich zur Tür, »aber jeder noch so gute Witz nutzt sich irgendwann einmal ab.«
»Sie sind also fest entschlossen, die Loge fünf heute abend zu besetzen?«
»Felsenfest.«
»Dann gestatten Sie mir wenigstens, mit in der Loge zu sein.«
»Was?«
»Kommt gar nicht in Frage!« Moncharmin schnaubte ungehalten über mein Ansinnen. »Ihre musikalischen Pflichten –«
»Sind hinfällig geworden angesichts meiner Verantwortung als Polizeibeamter«, konterte ich glatt. »Außerdem bin ich bereit, für meinen Platz zu zahlen.«
Dieses Angebot ließ sie zögern. Mit dem verbindlichsten Gesichtsausdruck, den ich annehmen konnte, blickte ich von einem zum anderen. Richard zuckte mit den Schultern.
»Wie Sie wollen, Sigerson. Aber halten Sie sich bitte im Schatten.«
»Jawohl, bleiben Sie im Schatten«, wiederholte Moncharmin diese Anweisung zufrieden. »Dies ist schließlich unser Abend.«
KAPITEL NEUN
Das Werk des Engels
Die Zeit war jetzt so knapp, daß ich nicht einmal mehr nach Irene Adler fragen konnte, die man, wie ich wußte, in ihr Hotel gebracht hatte. Ein Telefongespräch war das einzige, was ich noch zuwege brachte, und der Empfangschef versicherte mir, daß er sie persönlich in ihre Suite gebracht hatte. Es gab also nichts mehr, was ich an dieser Front noch hätte tun können. Dringendere Angelegenheiten verlangten meinen vollen Einsatz.
Bevor ich meine Abendkleidung anzog, unternahm ich noch einen letzten nutzlosen Versuch.
»Wo kann ich einen Satz von Plänen für die Opéra finden?« frage ich den alten Jérôme am Bühneneingang.
»Die nächste Führung findet in fünfzehn Minuten statt«, sagte er, ohne aufzusehen oder den Pfeifenstummel aus seinem Mund zu nehmen, der dort zwischen seine drei letzten Zähne eingeklemmt war.
»Was für eine Führung?«
»Genau!« fuhr er mich höhnisch an. »Sie glauben wohl, das hier ist der verdammte Eiffelturm? Pläne!« schnaubte er und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
Mercier, der Verwalter, war da schon ein wenig hilfreicher.
»Es gibt keinen vollständigen Satz Pläne in diesem Gebäude«, sagte er schulterzuckend, während er über meine Bitte nachdachte. »Zumindest keinen, der weitergeht als bis Kellergeschoß vier – und das sind die Ställe. Jede Abteilung kennt ihre eigenen Örtlichkeiten und weiß, was da zu tun ist.« Er zuckte wieder mit den Schultern und strich einen widerspenstigen Wirbel an seinem Hinterkopf glatt. »Ich nehme an, Sie könnten sich an die Stadtplanungskommission in der Rue de Varenne wenden, obwohl ich nicht glaube, daß sie im Augenblick offen haben. Wozu brauchen Sie die Pläne?«
Mir blieb nichts anderes übrig, als ohne die Pläne in das Labyrinth hinabzusteigen, um mich auf die Suche nach diesem modernen Minotaurus zu machen. Nach dem Beispiel des Theseus besorgte ich mir aus dem Kostümfundus ein Knäuel grünen Garns. Als ich das zweite Untergeschoß hinter mir gelassen hatte, begann ich, das Garn in meinem Kielwasser abzuwickeln, während ich mich durch Korridore und Flure schlängelte.
Was versuchte ich da zu erreichen? Ich wußte, daß ich nicht erwarten konnte, die Kreatur selbst zu entdecken; vielmehr suchte ich verzweifelt nach irgendeinem Hinweis, was seinen modus operandi betraf – denn es war klar, daß er über diesen Ort herrschte. Ich würde mich mit allem zufriedengeben, das es mir ermöglichte, ihn aus seinem Versteck aufzuscheuchen.
Nach mehreren endlosen Tunneln traf ich auf die Spiralrampe, die von den Pferden benutzt wurde, und folgte ihr nach unten zu den Opernställen. Bis zu diesem Punkt war ich niemandem begegnet, aber in den Ställen waren einige Stallknechte in eine erregte Debatte verwickelt.
»Was haben Sie hier unten zu suchen?« wollte einer von ihnen wissen und stolzierte großspurig zu mir
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