Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
Schalen zumuten, Watson! Ich sehe, daß Ihnen dieser Umstand ein Kopfschütteln entlockt. Und doch gelingt es unseren schwachen Körpern immer noch, unsere armen Seelen zu beschützen.
Diesmal gab es keine Frage, was die Leiche des Phantoms betraf. Zur gleichen Zeit, als Mitglieder der Präfektur und einige Nothelfer sechs algerische Arbeiter ausgruben, die bei dem Zusammenbruch des Tunnels begraben worden waren, entdeckten sie auch die Leiche des unglücklichen Mannes, der so lange Zeit im Innern der Erde eine solch phantastische und schwierige Existenz geführt hatte.
Wie hatte es mir nur passieren können, daß ich das beharrliche Donnern nicht als die Preßlufthämmer und Löffelbagger auf der Rue Scribe erkannte?
Was den Vicomte betrifft, so war seine Verletzung nicht von ernsthafter Natur, aber der junge Mann hatte viel Blut verloren, und es schien notwendig, daß er für eine Weile komplette Bettruhe hielt. Die Ärzte zählten auf die angeborene eiserne Konstitution des jungen Mannes und auf seinen kräftigen Appetit – beides zusammen sollte in absehbarer Zeit für seine Genesung sorgen. Sein Verstand, der für kurze Zeit an einem seidenen Faden gehangen hatte, wurde durch den Anblick jenes Menschen, der ihm mehr als alles andere auf der Welt bedeutete, wieder hergestellt. Stundenlang saß Christine neben seinem Bett, ohne seine Hand auch nur einen Augenblick lang loszulassen, nicht einmal, wenn er schlief.
Auch ihr eigener Gemütszustand besserte sich auf diese Weise, und so umklammerten sie einander in inniger Verbundenheit, in liebendem Geben und Nehmen.
Es dauerte mehrere Tage, bis ich die Gelegenheit hatte, sie wiederzusehen. In der Zwischenzeit mußte ich viele Stunden in Gesellschaft von Inspektor Mifroid von der Präfektur zubringen, der so zäh war wie ein Fuchshund bei der Verfolgung seiner Beute.
»Seien Sie so gut und fangen Sie ganz am Anfang an«, sagte er, »und lassen Sie nichts aus, Monsieur.« Er wies auf einen Sekretär, der seinen Stift bereithielt. Ich hatte keine andere Wahl, Watson, als ihm einen großen Teil der ganzen Angelegenheit zu erzählen. Seine Augen weiteten sich, und er zog vor Skepsis das Kinn tief herunter, als er meinen Namen hörte. Ich spürte, daß er meine Identität bestreiten wollte, belehrte ihn jedoch schon bald eines besseren. Ein Telegramm an Mycroft im Außenministerium und verschiedene andere Auskünfte überzeugten ihn schließlich von meiner wahren Identität, und mit einigen kleineren Schwierigkeiten gelang es mir, ihm das Versprechen abzuringen, nach außen hin mein Inkognito zu wahren. Ich erzählte ihm nichts von der Zeit vor meiner Ankunft in Paris, sondern beschränkte mich auf den Bericht über die merkwürdigen Ereignisse, die seit meiner Anstellung in der Opéra stattgefunden hatten. Nachdem die Leiche des Phantoms entdeckt worden war, hörte er auf, meine Geschichte anzuzweifeln, was zum Teil auf die Aussage von Ponelle zurückzuführen war, der sich als überaus hilfreich erwies. Dieser junge Mann war nun – zusammen mit dem hartnäckigen Bela und dem Rest des Orchesters – fest davon überzeugt, daß ich tatsächlich auf Geheiß der Autoritäten an die Opéra gekommen war.
»Also haben Sie doch die Wahrheit gesagt!« rief er aus, als wir uns zu einem Abschiedskaffee in unserem üblichen Lokal trafen.
»Eine lästige Angewohnheit«, log ich.
»Es wird Sie vielleicht interessieren, daß man den Sarg Garniers wieder zusammengeflickt hat.« Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Ich verspreche Ihnen, daß ich mich für den Rest meiner Tage an diesen Ausflug erinnern werde.«
»Ich werde Sie vermissen, Ponelle.«
»Gerade, als ich mich an Ihren unorthodoxen Stil, den Bogen zu führen, gewöhnt hatte«, fuhr Bela fort, der die Anspielung auf den Garnier-Sarg natürlich nicht verstanden hatte. Andernfalls hätte er uns gewiß der Gotteslästerung beschuldigt. »Es tut uns leid, daß wir Sie verlieren, Sigerson. Ich glaube, selbst der alte Leroux hat so etwas wie eine Schwäche für Sie entwickelt.«
»Und ich für ihn.«
Was tatsächlich stimmte. Etwas an der Art, wie der maître sich während der ganzen Angelegenheit benommen hatte, hatte meine Bewunderung gewonnen. Sein Credo, so einfach, so beharrlich und so lobenswert, schien mir im Angesicht all der Verwirrungen eine Reinheit zu besitzen, die einen großen Teil seiner tyrannischen Anmaßung entschuldigte. Er war ein großartiger Dirigent. Ich bin mir nicht sicher, ob man bei
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