Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
dies ist Mr. Mycroft Holmes. Können wir eintreten?«
»Master Mycroft!« rief er erschreckt und überrascht aus.
»Die Zeit drängt«, unterbrach Mycroft ihn mit beruhigender Stimme. »Wir wollen Ihnen und meinem Bruder helfen.«
»Ja, ja, gewiß«, stimmte Moriarty hastig zu. »Bitte folgen Sie mir leise. Meine Hauswirtin und die Mädchen schlafen bereits. Ich möchte sie nicht wecken.«
Nachdem wir eingetreten waren, schloß Moriarty geräuschlos die Tür und legte den Riegel vor.
»Hier entlang«, er nahm die Lampe vom Tisch in der Halle und geleitete uns die Treppe hinauf in seine Räume. Sie erinnerten an seinen Schlafrock – sie waren mit allem Nötigen ausgestattet, wirkten aber vom Zahn der Zeit angenagt.
»Bitte drehen Sie nicht das Gas an«, bat Mycroft, als er sah, daß der Professor nach der Lampe griff. »Mein Bruder könnte zurückkommen, und es ist wichtig, daß er keinerlei Veränderung bemerkt.«
Moriarty nickte und setzte sich, wobei er uns mit einer zerstreuten Handbewegung aufforderte, desgleichen zu tun.
»Was führt Sie zu mir?« fragte er in Verzweiflung, denn unsere ernsten Gesichter gaben ihm klar genug zu verstehen, daß die Sache mindestens so schwerwiegend war, wie er vermutet hatte.
»Wir wären Ihnen äußerst verbunden, wenn Sie morgen früh nach Wien aufbrechen würden«, begann Mycroft.
KAPITEL FÜNF
Eine Reise durch den Nebel
Es erübrigt sich wohl, an dieser Stelle darüber zu berichten, welche Angebote wir in jener Nacht dem unglückseligen Mathematiklehrer machten – was für Bestechungen, Drohungen und Schmeicheleien wir anwendeten, um ihn zu überreden. Ich hätte in Mycroft Holmes nicht die Eloquenz vermutet, die er bei diesem bizarren Anlaß an den Tag legte. Zunächst protestierte Moriarty. Er ließ kurze, frettchenhafte Blicke seiner blauen, im Licht der heruntergedrehten Lampe blaß erscheinenden Augen zwischen uns hin- und hergleiten. Aber Mycroft gelang es, ihn zu überzeugen. Ich wußte damals nicht, welche Macht genau der unförmige Riese über die kleine Vogelscheuche hatte, aber es war Mycroft, dem er schließlich nachgab. Am Ende war er zu allem bereit, nachdem wir versprochen hatten, ihn zu entschädigen, und er erinnerte uns eindringlich an die Erklärungen, die wir dem Schuldirektor Brice-Jones abzugeben hatten, damit ihm der Posten an der Roylott-Schule nicht durch Abwesenheit verlorengehe.
Als alles abgemacht war, ging ich ans Fenster und blickte, vorsichtig hinter dem Vorhang verborgen, hinunter auf die Straße. Holmes war nirgendwo zu sehen. Ich gab Mycroft Bescheid, und wir gingen, wie wir gekommen waren, und kehrten zu unserer Droschke zurück.
Auch auf der Rückfahrt widerstand ich der Versuchung, Mycroft über die Familiengeschichte der Holmes’ zu befragen. Und die Versuchung, das Geheimnis herauszufinden, war jetzt noch größer als vorher; es gab für mich keinen Zweifel daran, daß der Professor auf Mycrofts unverschämte Forderung nur eingegangen war, weil der letztere ihn so vollständig in der Hand hatte. Die ganze Auseinandersetzung, so wurde mir jetzt klar, hatte vor allem meinetwegen stattgefunden, das Ergebnis hatte von vornherein festgestanden.
Aber ich gab meiner Neugier nicht nach, und das war nicht so schwierig, wie es klingt, denn ich schlief in meiner Ecke ein und erwachte erst, als das Fahrzeug vor meiner Tür hielt und Mycroft mich sanft anstieß und mich so in die Gegenwart zurückrief. Wir sagten einander leise gute Nacht.
»Jetzt liegt alles bei Sherlock«, sagte er.
»Ich frage mich, ob wir es ihm nicht zu schwer gemacht haben.«
Es gelang mir kaum, ein Gähnen zu unterdrücken.
Drinnen in der Droschke lachte Mycroft leise vor sich hin. »Ich glaube nicht. Nach dem, was Sie sagen, scheint mir sein Charakter an sich unverändert zu sein; nur die Gewichte haben sich verlagert. Moriarty ist sein Mann, und er wird den Weg zu ihm finden, darüber brauchen wir uns wohl nicht zu sorgen. Den Rest muß dann der gute Doktor in Wien tun. Gute Nacht, Watson.« Er klopfte mit dem Stock leicht gegen das Dach der Droschke, die in den Morgennebel hineinratterte.
Ich muß irgendwie ins Bett gefunden haben, denn meine nächste Erinnerung ist die Gestalt meiner Frau, die sich mit besorgten Blicken über mich beugte.
»Bist du wohlauf, mein Liebling?« Sie legte eine prüfende Hand auf meine Stirn, als ob sie mich im Fieber wähnte. Ich erwiderte, daß ich müde, ansonsten aber bei guter Gesundheit sei, und setzte mich
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