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Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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recht zerschlagen war.
    Und dennoch, ich hatte gesehen, wie Holmes sich übermenschlichen Anstrengungen unterzog, wenn er an einem Fall arbeitete. War ich nicht in der Lage, es ihm an Brillanz gleichzutun, so konnte ich wenigstens seiner Ausdauer nacheifern.
    Mycroft Holmes war mir nicht näher bekannt. Ich hatte ihn sogar nur ein- oder zweimal getroffen, und das war drei Jahre her, als unsere Wege sich wegen des unglückseligen Falls des griechischen Dolmetschers gekreuzt hatten. Ja, mein Zusammenleben mit Holmes währte über sieben Jahre, bevor er seinen Bruder überhaupt erwähnte, und diese Enthüllung erstaunte mich damals so sehr, als hätte er mir mitgeteilt, die Erde sei flach. Noch verblüffter war ich, als Holmes zu verstehen gab, daß die geistigen Kräfte seines Bruders sogar schärfer waren als seine eigenen.
    »Aber dann«, wandte ich damals ein, »muß er ein noch besserer Detektiv sein, und wenn das der Fall ist, warum habe ich nie von dem Mann gehört?« Denn es schien außer Frage, daß ein zweiter Kopf wie Holmes in England existieren sollte, ohne daß es jemandem aufgefallen wäre.
    »Oh«, erwiderte Holmes leichthin, »Mycroft stellt sein Licht sozusagen unter den Scheffel. Er ist unglaublich faul«, fügte er hinzu, als er sah, daß ich nicht verstand. »Er wäre gerne bereit, den kniffligsten Fall zu lösen, wenn er sich dazu nur nicht aus seinem Sessel zu erheben bräuchte. Leider gehört oft noch etwas mehr dazu«, lachte er, »und Mycroft verabscheut jede Art von körperlicher Anstrengung.«
    Er erzählte, daß sein Bruder den größten Teil seiner Zeit im Diogenes-Club gegenüber seiner Wohnung in Pall Mall zubrachte. Der Diogenes-Club bestand aus Mitgliedern, die Clubs nicht leiden konnten. Er enthielt die kauzigsten und ungeselligsten Männer Londons, und eine eiserne Regel verbot es den Mitgliedern, auch nur die geringste Notiz voneinander zu nehmen. Abgesehen vom Besuchsraum war jede Konversation im Club strengstens untersagt.
    Als der Kutscher schließlich das Klappfenster öffnete und mir, ohne weiter hinzusehen, gleichmütig unsere Ankunft verkündete, war ich dann doch eingenickt.
    Ich überquerte eilig die Straße zum Eingang des Clubs, gab dem Portier meine Karte und bat ihn, Mr. Mycroft Holmes in den Besuchsraum zu senden. Er verbeugte sich steif und zog sich zurück, um den Auftrag zu erfüllen. Nur ein ganz leichtes Flattern seiner Lider, die er als Zeichen permanenter Arroganz halb geschlossen hielt, bedeutete mir, daß er mein Äußeres für unkorrekt befunden hatte. Ich machte einen erfolglosen Versuch, meinen Kragen geradezurücken, und fuhr mir etwas kläglich mit der Hand über das stoppelige Kinn. Gottlob brauchte ich meinen Hut nicht zu entfernen und mir das Haar zu kämmen. Zu jener Zeit war es, vor allem in Clubs, immer noch üblich – obwohl der Brauch allmählich ausstarb –, den Hut auch drinnen aufzubehalten.
    Etwa fünf Minuten später kehrte der Portier auf leisen Sohlen zurück und wies mir mit einer eleganten Geste seiner behandschuhten Hand den Weg ins Besucherzimmer, wo Mycroft Holmes mich erwartete.
    »Dr. Watson? Ich war nicht sicher, daß ich Sie erkennen würde.« Er watschelte auf mich zu und nahm meine Hand in seine schwammigen Finger. Ich habe schon an anderer Stelle bemerkt, daß Mycroft im Gegensatz zu Sherlocks Hagerkeit fleischig, ja beinahe fettleibig zu nennen war. Soweit ich feststellen konnte, hatten die Jahre nichts getan, um seine Polster zu beseitigen. Er betrachtete mich mit zusammengekniffenen, in Fettfalten eingebetteten Schweinsäuglein.
    »Wie ich sehe«, fuhr er fort, »kommen Sie in dringlichen Geschäften, die meinen Bruder betreffen. Sie sind seinetwegen den ganzen Tag unterwegs gewesen – meist in Droschken, will mir scheinen –, und Sie haben sich kurze Zeit in Waterloo aufgehalten, um etwas – oder nein«, verbesserte er sich, »um jemanden abzuholen. Sie sind ermüdet«, fügte er hinzu und wies auf einen Sessel. »Bitte sagen Sie mir, was meinem Bruder zugestoßen ist.«
    »Woher wissen Sie, daß ihm etwas zugestoßen ist?« fragte ich und sank voller Verblüffung in den Sessel. Hier war wirklich Holmes’ Geschwisterseele am Werk.
    »Puh«, Mycroft wedelte mit seiner Riesenpratze. »Ich habe Sie seit drei Jahren nicht gesehen, und als wir uns das letzte Mal trafen, waren Sie in Gesellschaft meines Bruders, dessen Chronist Sie bekanntlich sind. Sie statten mir einen plötzlichen Besuch ab, und zwar zu einer Zeit, zu

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