Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
Vertraulichkeiten – selbst zwischen Freunden – verbot, und ich war mit Mycroft noch nicht einmal enger befreundet.
Statt dessen begann ich darüber nachzugrübeln, wie wir Professor Moriarty dazu überreden konnten, unserer bizarren Forderung nachzukommen. Es kann uns doch gar nicht gelingen, den furchtsamen Schulmeister dazu zu bringen, seine Stelle aufzugeben und, mir nichts dir nichts, plötzlich auf den Kontinent zu reisen. Er wird Einwände erheben, zaudern; schlimmer als das, er wird wieder winseln.
Ich wandte mich meinem Begleiter zu, um ihm meine Befürchtungen mitzuteilen, aber er hatte den Kopf aus dem Fenster gelehnt.
»Halten Sie, Kutscher«, befahl er mit leiser Stimme, obwohl wir noch ziemlich weit von unserem Bestimmungsort entfernt waren.
»Wenn der Professor nicht übertreibt«, erklärte Mycroft, während er seinen mächtigen Leib aus der Droschke zwängte, »dann müssen wir auf der Hut sein. Es ist von äußerster Wichtigkeit, mit ihm zu sprechen, aber es wäre ein Fehler, unseren Besuch auch Sherlock anzukündigen, der möglicherweise in dieser Nacht wieder einmal Wache steht.«
Ich nickte und gebot dem Fahrer, auf uns zu warten, ganz gleich, wie lange es dauern würde. Um ganz sicher zu gehen, drückte ich ihm einen Shilling in die Hand und versprach ihm einen zweiten bei unserer Rückkehr. Dann machten Mycroft und ich uns in aller Stille auf den Weg durch die verlassenen Straßen zu des Professors Wohnung.
Munro Road befand sich in der unbedeutenden Nachbarschaft von zweistöckigen Häusern mit Stuckfassaden und unansehnlichen kleinen Gärten. Als ich am Ende der Straße weißlichen Rauch in die Nachtluft steigen sah, griff ich nach dem Ärmel meines stämmigen Begleiters. Er warf einen Blick in die Richtung und nickte. Wir traten beide in den Schatten des nächsten Hauses.
Unter der einzigen Laterne in der Straße stand Sherlock Holmes und rauchte seine Pfeife.
Wir schoben uns weiter in den Schatten und kauerten uns zusammen. Bald erkannten wir, daß die Situation hoffnungslos war. Solange Holmes gegenüber des Professors Haustür aufgepflanzt blieb, hatten wir keine Hoffnung, unbeobachtet hineinzugelangen, es sei denn auf Umwegen. Und keiner von uns hatte die geringste Vorstellung, was das für Umwege sein sollten. Wir berieten uns kurz und im leisen Flüsterton. Wir erwogen die Strategie, durch die Hintertür auf der anderen Seite der Straße ins Haus zu gelangen, aber eine Reihe von Argumenten sprach gegen diese Kriegslist. Ganz sicherlich wäre ein Zaun zu übersteigen, und obwohl ich zu dergleichen gymnastischen Übungen in der Lage gewesen wäre, konnte man das von Mycroft leider nicht sagen. Selbst wenn er den Zaun überwand und wir in der Dunkelheit das richtige Haus fanden, dann mußten wir doch immer noch mit einer verschlossenen Hintertür rechnen; die unvermeidliche Unruhe, die unser Eindringen verursachen mußte, hätte fraglos Holmes’ Aufmerksamkeit erweckt.
Das Problem löste sich in unerwarteter Weise. Als ich mich nach der Gestalt meines Freundes unter dem gelben Lichtschein der Laterne umblickte, sah ich, wie er die Asche aus seiner Pfeife an seinem Stiefelabsatz ausklopfte und auf das andere Straßenende zuschlenderte.
»Er geht!« stieß ich aufgeregt hervor.
»Wollen wir hoffen, daß er nicht zurückkommt, um seinen Wachtposten wieder einzunehmen«, murmelte Mycroft und erhob sich, wobei er nach Luft schnappte und versuchte, seine Knie abzustauben. Sein Umfang verhinderte dieses Unternehmen. Er gab auf. »Jetzt schnell«, sagte er, »wir müssen unser Ziel ohne weitere Verzögerungen erreichen.«
Er eilte aufs Haus zu. Ich stand still und blickte der Gestalt meines Freundes in der Dunkelheit nach, die sich bereits weit entfernt hatte. Es schien mir, daß selbst sein Rücken – gerade und schmal in Holmes’ typischer Pelerine – einsam und verlassen wirkte.
»Kommen Sie, Watson!« zischte Mycroft, und ich folgte ihm.
Die Insassen des Hauses zu wecken, war einfacher, als wir gedacht hatten; Professor Moriarty war auf. Seine Versuche, Schlaf zu finden, waren – nicht zum erstenmal – von dem Bewußtsein vereitelt worden, daß Holmes unter seinem Fenster stand.
Er hatte uns wohl kommen sehen, denn die Tür wurde geöffnet, bevor Mycrofts Hand den Klopfer erreicht hatte. Moriarty, mit Nachthemd, Nachtmütze und einem verblichenen roten Morgenrock bekleidet, blinzelte uns mit kurzsichtigen, schlafhungrigen Augen an.
»Dr. Watson?«
»Ja, und
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