Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
der die meisten verheirateten Männer zu Hause bei ihren Frauen sind, und Sie kommen ohne Ihr Alter ego. Es ist nicht weiter schwierig, daraus zu schließen, daß er in Schwierigkeiten ist und Sie mich um Rat oder Hilfe bitten wollen. Ihrem Kinn kann ich ansehen, daß Sie den ganzen Tag unterwegs gewesen sind und keine Gelegenheit hatten, sich das zweite Mal zu rasieren, was bei Ihrem Bartwuchs wohl nötig wäre. Sie haben keinen Arztkoffer bei sich, obwohl mir durch Ihre eigenen Veröffentlichungen bekannt ist, daß Sie wieder praktizieren. Daraus entnehme ich, daß Ihr anstrengender Tag etwas mit dem Besuch bei mir zu tun haben muß. Das Datum Ihrer Bahnsteigkarte, die aus Ihrer Manteltasche herausschaut, verrät mir, daß Sie heute auf einem der Bahnsteige in Waterloo Station waren. Wenn Sie lediglich vorgehabt hätten, ein Paket abzuholen, dann wären Sie nur zur Gepäckausgabe gegangen, für welche man, soviel ich weiß, keine Karte braucht; Sie müssen also dort eine Person abgeholt haben. Was die Droschken angeht, so kann man, wie gesagt, Ihrem Bart und Ihrem abgekämpften Gesichtsausdruck leicht entnehmen, daß Sie den ganzen Tag nicht zu Hause waren; dennoch ist Ihr Regenmantel trocken, und Ihre Stiefel sind sauber trotz des unfreundlichen Wetters. Welch andere Transportart ist so bekömmlich für den gepflegten Herrn wie die Gondeln von London, wie Mr. Disraeli sie zu nennen pflegt? Sie sehen, es ist alles ganz einfach. Nun sagen Sie mir, was vorgefallen ist.«
Er zog sich einen Sessel heran, ließ mir etwas Zeit, mein Erstaunen zu verdauen, lächelte liebenswürdig und bot mir einen Drink an. Ich schüttelte den Kopf.
»Sie haben also in letzter Zeit keinen Kontakt mit Ihrem Bruder gehabt?« fragte ich.
»Seit über einem Jahr nicht.«
Dies erschien mir nicht verwunderlich, obwohl die meisten Menschen es wohl befremdend finden, daß zwei Brüder, die in der gleichen Stadt wohnen und nicht miteinander verstritten sind, so vollkommen allein für sich leben. Aber ich wußte nur zu gut, daß die Holmes-Brüder die Ausnahme waren und nicht die Regel.
Ich warnte Mycroft Holmes, daß meine Nachrichten unerfreulich seien, und berichtete ihm vom Zustand seines Bruders und wie ich beabsichtigte, ihn zu kurieren. Er hörte mich mit bedrücktem Schweigen an; sein Kopf sank tiefer und tiefer, während ich sprach. Als ich geendet hatte, folgte eine so lange Pause, daß ich für einen Augenblick dachte, er sei eingeschlafen. Ein tiefer, wie Schnarchen klingender Seufzer verstärkte diesen Eindruck noch, aber dann hob er langsam den Kopf, bis seine Augen wieder in meine blickten. Ich sah Schmerz unter dem Schweinchenausdruck.
»Moriarty?« wiederholte er schließlich heiser.
Ich nickte.
Er schnitt mir mit einer Handbewegung die Rede ab.
»Ja so, ja so«, murmelte er, verfiel dann wieder in Schweigen und starrte auf seine Fingerspitzen. Schließlich hievte er sich mit einem erneuten Seufzer auf seine Füße und begann angeregt zu sprechen, als wolle er sich selbst aus der Depression reißen, in die meine Neuigkeiten ihn gestürzt hatten.
»Ihn nach Wien zu bringen, wird nicht einfach sein«, stimmte er zu, während er zur Tür schritt und die Klingelschnur zog, »aber es ist auch nicht unmöglich. Wir müssen ihn nur davon überzeugen, daß Moriarty dort ist – und daß er auf ihn wartet.«
»Aber wie das zu erreichen ist, will mir eben nicht einfallen.«
»Nein? Nun, die einfachste Lösung ist, Professor Moriarty dazu zu bringen, nach Wien zu gehen. Wir brauchen eine Droschke, Jenkins«, sagte Mycroft Holmes über meine Schulter hin zu dem Diener, den die Klingel herbeigerufen hatte.
Er schwieg während der nächtlichen Fahrt nach 114 Munro Road (die Adresse in Hammersmith, die wir der Visitenkarte des Professors entnommen hatten). Nur einmal erkundigte er sich nach dem österreichischen Spezialisten. Ich erläuterte den Artikel im ›Lancet‹ in allen Einzelheiten, und er reagierte mit einem Grunzen.
»Hört sich jüdisch an«, war sein einziger Kommentar.
Ich fühlte mich inzwischen besser, und die Tatsache, daß ich Mycroft – oder Mycrofts Gehirn – für die Sache gewonnen hatte, half noch, mich aufzuheitern. Ich war versucht, ihn nach Professor Moriarty und der Tragödie zu fragen, die derselbe erwähnt hatte, aber ich unterließ es. Mycrofts Gedanken waren offensichtlich ganz von seines Bruders traurigem Schicksal in Anspruch genommen; zudem hatten beide etwas an sich, das solche
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