Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
auszutauschen, zu reden, zu lesen, allein zu sein. Sie waren außerdem sehr geeignet, das Körpergewicht ihrer Kundschaft zu vermehren, denn sie boten die ausgefallensten Teigwaren an, und man mußte schon einen starken Willen besitzen, um diesen duftenden Köstlichkeiten zu widerstehen.
Freud war im Griensteidl (das übrigens den Ruf des kultiviertesten Cafés der Stadt für sich in Anspruch nahm), und ein Kellner brachte mich zu seinem Tisch. Ich bestellte ein Bier, und er berichtete mir, daß Holmes noch schlafe, meinte aber, wir sollten bald in die Berggasse 19 zurückkehren. Uns beiden schien eine gewisse Scheu gemeinsam, unmittelbar auf die vielen Fragen und Probleme einzugehen, die mit Holmes’ möglicher Heilung zusammenhingen, und so erzählte mir Freud zunächst von sich selbst und seiner gegenwärtigen Arbeit. Kokain, so erklärte er, beschäftigte ihn nur am Rande und hatte nicht direkt etwas mit seinen Forschungen zu tun. Er und zwei andere Ärzte waren auf die Droge aufmerksam geworden, als sie ihre unschätzbaren anästhetischen Eigenschaften für Augenoperationen entdeckten. Freud war als Neuropathologe ausgebildet und verstand sich auf lokalisierte Diagnose und Elektroprognose – Ausdrücke, die über den Horizont eines praktischen Arztes, wie ich es einer war, hinausgingen.
»Ja, es war ein langer Weg von der Analyse des Nervensystems zu meiner jetzigen Tätigkeit.«
»Sind Sie Psychiater?«
Er zuckte die Achseln.
»Es gibt – wie Herr Holmes ganz richtig vermutet hat – keine formale Bezeichnung für meine Arbeit«, erwiderte er. »Ich interessiere mich für Fälle von Hysterie, und die meisten kommen – von ihren Familien geschickt – als Privatpatienten zu mir, oder ich suche sie auf. Wohin meine Studien führen werden, kann ich mit Gewißheit nicht sagen, aber ich habe viel über Hysterie gelernt und über das, was ich Neurose nenne.«
Ich wollte ihn gerade nach der Bedeutung dieses Wortes fragen und mich außerdem erkundigen, ob Holmes’ These von der Ablehnung seiner, Freuds, Theorien durch den etablierten Medizinerstand den Tatsachen entspreche, aber er unterbrach mich und schlug vor, zu unserem Patienten zurückzukehren. Während wir uns zwischen den Tischen mit plaudernden Künstlern und Schriftstellern durchzwängten, bot er mir über seine Schulter hinweg an, mich auf einige seiner Visiten mitzunehmen, so daß ich seine Patienten und ihre Symptome selbst kennenlernen konnte. Ich nahm mit Vergnügen an, und wir wanderten durch den geschäftigen Graben und bestiegen ein von Pferden gezogenes Fahrzeug, das wie eine Tram auf Schienen lief.
Wir setzten uns, und ich fragte: »Sagen Sie, kennen Sie einen englischen Arzt namens Conan Doyle?«
Er schürzte die Lippen und versuchte sich zu erinnern.
»Sollte ich ihn kennen?« fragte er schließlich.
»Vielleicht. Er studierte eine Zeitlang in Wien und spezialisierte sich auf Opthalmologie wie Ihre Kollegen –«
»Königstein oder Konen«
»Ja. Vielleicht kannten Sie ihn in seiner Studienzeit.«
»Vielleicht.« Diese unverbindliche Antwort enthielt keinerlei Angebot, sich bei seinen Kollegen nach Doyle zu erkundigen. Vielleicht gehörten sie zu denen, die ihn, Freud, schnitten.
»Was haben Sie für eine Beziehung zu Dr. Doyle?« fragte Freud, als wolle er die Kürze seiner Antwort überspielen.
»Keine medizinische, wie ich Ihnen versichern kann. Dr. Doyle hat Einfluß bei gewissen literarischen Zeitschriften in England. Er ist heutzutage auf literarischem Gebiet sehr viel aktiver als auf medizinischem, und ich verdanke es ihm, daß meine Aufzeichnungen von Holmes’ Fällen veröffentlicht wurden.«
»Aha.«
An der Kreuzung Währinger Straße und Berggasse stiegen wir aus und gingen zu Fuß in nördlicher Richtung nach Hause. Wir hatten die Schwelle noch nicht überschritten, als uns von oben ein furchtbarer Tumult entgegenklang. Im Vorbeirennen sah ich Paula, das Mädchen, und eine Dame, die mir später als Frau Freud vorgestellt wurde. Ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren, das sich ängstlich ans Treppengeländer klammerte, nahm ich kaum wahr. Später wurden Anna Freud und ich große Freunde, aber im Augenblick war keine Zeit für Vorstellungs-Zeremonien.
Freud und ich stürzten ins Schlafzimmer. Holmes zerrte wie ein Rasender an der Reisetasche. Sein Kragen war offen, sein Haar verwirrt und seine Bewegungen zuckend und verkrampft wie die eines Menschen, der seine Muskeln nicht mehr voll kontrollieren
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