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Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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selbst schien in konzentrischen Kreisen gewachsen zu sein, deren Mittelpunkt der Stephansdom war. Hier lagen die alten und eleganten Stadtviertel mit dem Graben, einer belebten Geschäftsstraße voller Läden und Kaffeehäuser. Nördlich davon, in der Berggasse 19, wohnte Dr. Freud. Links davon lagen die Gebäude der Hofburg, die Museen und die gutgepflegten Parks. Dort endete die Innenstadt. Die Stadtmauern, die einst zur Verteidigung des mittelalterlichen Wien gedient hatten, waren – auf kaiserliches Gebot – seit langem abgerissen worden, und die Stadt war weit über sie hinausgewachsen. Aber die alte Stadtgrenze war in Form eines breiten Boulevards immer noch erhalten. Er zog sich unter verschiedenen Namen in unterschiedliche Richtungen, war aber allgemein als der ›Ring‹ bekannt und umzirkelte östlich und nördlich vom Stephansdom die alten Viertel bis zum Donaukanal.
    Die Stadt war, wie gesagt, ihren mittelalterlichen Grenzen entwachsen. 1891 strebte sie schon über einen äußeren Boulevard, den Gürtel, hinaus, an dem zur Zeit meines Aufenthalts noch teilweise gebaut wurde. Der Gürtel, der in einer ungenauen Parallele mit dem Ring verlief, lag an seinem äußersten südwestlichen Ende etwa halbwegs zwischen dem Stephansdom und Maria Theresias Schloß Schönbrunn – der habsburgischen Antwort auf Versailles.
    Nördlich von Schönbrunn, im Fünfzehnten Bezirk, lag der Bahnhof, an dem Holmes und ich ausgestiegen waren. Auf der anderen Seite der Stadt (jenseits des Donaukanals), im Zweiten Bezirk, gab es eine noch viel größere Bahnstation inmitten der Leopoldstadt, eines vornehmlich jüdischen Viertels. Hier, so erzählte mir Dr. Freud, hatte er als Kind gelebt, nachdem seine Familie nach Wien gezogen war.
    Seine gegenwärtige Wohnung lag in beruflicher Hinsicht sehr viel günstiger (denn Holmes hatte sich in einem geirrt: Freud praktizierte nach wie vor). Das Haus lag in der Nähe des Allgemeinen Krankenhauses, Wiens großer Universitätsklinik, in dem er früher angestellt gewesen war. Er hatte in der psychiatrischen Abteilung unter einem Dr. Theodor Meynert gearbeitet, einem Mann, den er sehr bewunderte.
    Meynert war wie Freud jüdischer Abstammung, aber das war in Wiener medizinischen Kreisen, die sich nach Freuds Auskunft weitgehend aus Juden zusammensetzten, nichts Besonderes. Die Juden schienen großen Einfluß auf das intellektuelle und kulturelle Leben der Stadt zu nehmen. Ich hatte nicht viele Juden getroffen und wußte wenig über sie, möchte aber sagen, daß ich mich von Vorurteilen, die gewöhnlich der Ignoranz entspringen, so weit wie möglich freihalte. Wie ich herausfinden sollte, war Freud nicht nur ein genialer und kultivierter, er war auch ein guter Mann. Was mich betrifft, waren diese Eigenschaften sehr viel wichtiger als sein Glaube – über den er sich selbst übrigens keineswegs im klaren war. Ich selbst bin nicht religiös und sah daher nicht den geringsten Anlaß, mich in eine dogmatische Kontroverse mit einem ›Heiden‹ zu stürzen (allerdings lehnte ich einige seiner Theorien als wirklich schockierend ab).
    Ich sehe, daß ich von meiner Beschreibung Wiens abgekommen bin und unerbittlich den Faden meiner Erzählung wieder aufgenommen habe. Es ist vielleicht gut so. Ich habe Wien nicht an einem Tag kennengelernt, und warum soll ich den Leser mit einer Reisebeschreibung konfrontieren, wenn eine Impression ausreicht? Die Teile der Stadt, die meine Aufmerksamkeit erregten, werden im Laufe der Erzählung ohnehin erwähnt.
    Nachdem ich Toby seinem widerstrebenden Begleiter überlassen hatte, ging ich in den Graben hinunter zum Café Griensteidl, das unübersehbar inmitten der Straße lag. Hier hatte ich mich – für den Fall, daß Holmes noch schlafen sollte – mit Dr. Freud verabredet.
    Wollte man das Griensteidl ein Café im englischen Sinne nennen, dann täte man ihm schweres Unrecht, denn es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was wir Engländer so bezeichnen. Die Cafés in Wien ähnelten eher den Londoner Clubs. Sie waren die Zentren intellektuellen und kulturellen Austauschs, und man konnte einen angenehmen Tag dort verbringen, ohne einen Schluck Kaffee zu sich zu nehmen. Im Griensteidl gab es Billardtische, Nischen zum Schachspielen, Zeitungen und Bücher. Die Kellner waren bereit, Nachrichten zu übermitteln, und stellten jede Stunde ein Glas frisches Wasser auf den Tisch, auch wenn man nichts zu essen bestellt hatte. In die Cafés ging man, um Ideen

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