Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
Vom Netzwerk:
Leben gespielt, und das war, als er drei Wochen brauchte, mir die Grundlagen der Infinitesimalrechnung beizubringen.«
    »Es liegt mir nicht so sehr daran, daß Sie das sagen«, erwiderte der Doktor ruhig, »als vielmehr daran, daß Sie selbst diese Wahrheit erkennen.«
    Eine Pause trat ein.
    »Ich erkenne sie«, flüsterte Holmes endlich. In dieser beinahe unhörbaren Antwort lagen alle Demütigungen und alles Leid, die einem menschlichen Wesen widerfahren können. Selbst Freud, der so unnachgiebig sein konnte wie Holmes, wenn die Gelegenheit es verlangte, hatte keinen Wunsch, die lange Stille zu unterbrechen, die diesem Bekenntnis folgte.
    Holmes selbst brachte das lange Schweigen zu einem Ende. Er erspähte mich, und seine Züge belebten sich.
    »Watson? Kommen Sie näher, alter Freund. Sie sind doch mein alter Freund, nicht wahr?« fügte er unsicher hinzu.
    »Das wissen Sie doch.«
    »O ja.« Er ließ sich aus der aufrechten Lage, die er mit so viel Mühe eingenommen hatte, wieder in die Kissen sinken und betrachtete mich mit einem unruhigen Ausdruck in seinen grauen Augen.
    »Ich kann mich nicht gut an die vergangenen Tage erinnern«, begann er, aber ich unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
    »Das ist vorbei und vergessen. Belasten Sie sich nicht damit.«
    »Ich sagte, ich kann mich nicht gut erinnern«, fuhr er mit einem Aufflackern seiner alten Zähigkeit fort, »aber mir will scheinen, ich habe Sie angeschrien und Ihnen allerlei Beschimpfungen an den Kopf geworfen. Habe ich das getan, Watson? Oder bilde ich es mir ein?«
    »Sie haben es sich eingebildet, lieber Freund. Liegen Sie nun still.«
    »Denn wenn ich es tat«, fuhr er fort und folgte gehorsam meiner Anordnung, »dann müssen Sie wissen, daß ich es nicht so gemeint habe. Hören Sie? Ich entsinne mich genau, daß ich Sie Judas genannt habe. Wollen Sie mir diese monströse Verleumdung verzeihen? Wollen Sie?«
    »Holmes, ich bitte Sie.«
    »Lassen Sie ihn jetzt lieber allein«, unterbrach Freud und legte die Hand auf meine Schulter. »Er schläft ein.«
    Ich stand auf und floh mit tränenblinden Augen aus dem Zimmer.

KAPITEL NEUN

    Ein Tennisspiel und eine Violine

    Sigmund Freuds Warnung war gerechtfertigt: Holmes schien zwar kein Verlangen nach Kokain mehr zu haben, aber die strikteste Wachsamkeit war vonnöten, um ihm jeglichen Zugang zu dem Gift zu verwehren. Da das Schlimmste, wie auch Doktor Freud mir versicherte, vorüber war, wollte ich eigentlich nach England zurückkehren, aber er beschwor mich, zu bleiben. Holmes’ Lebensgeister waren immer noch nicht zurückgekehrt, er mußte zum Essen mühsam überredet werden, und er selbst konnte noch nicht in seine eigene Welt zurückkehren; er brauchte so offensichtlich einen Freund, daß ich mich bereit fand, noch eine Weile zu bleiben.
    Wieder tauschten meine Frau und ich Telegramme aus; ich umriß die Situation und bat sie um Geduld, und sie antwortete herzlich und ermutigend: Die Praxis, so ließ sie mich wissen, wurde von Cullingworth aufs beste versorgt, und sie selbst versprach, Mycroft Holmes von der Genesung seines Bruders zu unterrichten.
    Aber Holmes’ Fortschritte waren minimal. Zwar war er nicht mehr am Rauschgift interessiert, er zeigte aber auch keinen Enthusiasmus für irgend etwas anderes. Wir zwangen ihn zum Essen und überredeten ihn zu Spaziergängen in den Parks nahe der Hofburg. Bei diesen Anlässen promenierte er pflichtbewußt, wobei er den Blick stets auf den Boden gerichtet hielt. Ich war nicht sicher, ob ich diese Entwicklung begrüßen sollte; zweifellos entsprach es ganz den Gepflogenheiten des alten Holmes, der fast nie die Landschaft beachtete und lieber Fußabdrücke studierte. Aber als ich versuchte, mit ihm darüber zu sprechen, und ihn nach dem Resultat seiner Studien befragte, ersuchte er mich nur mit müder Stimme, ihn nicht so gönnerhaft zu behandeln, und ließ es dabei bewenden.
    Er nahm seine Mahlzeiten jetzt mit den anderen Mitgliedern des Haushalts ein, schwieg eisern, trotz aller unserer Ansätze zur Konversation, und aß wenig. Dr. Freuds Gespräche über seine anderen Patienten schienen ihn nicht im geringsten zu interessieren, und meine eigene Aufmerksamkeit war so von Holmes in Anspruch genommen, daß ich auch nicht viel von ihnen mitbekam. Ich erinnere mich vage, daß er sie mit den seltsamsten Namen bezeichnete; manchmal sprach er vom ›Rattenmann‹ oder vom ›Wolfsmann‹, manchmal von einer Person namens ›Anna O.‹. Mir leuchtete ein, daß

Weitere Kostenlose Bücher