Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
verwunderte Blicke tauschten.
»Aber, Herr Holmes, was hat denn von Bismarck mit –?«
»Ist es möglich, daß Sie das nicht erkennen?« Holmes sprang auf und begann, im Zimmer hin- und herzugehen. »Nein, nein, ich muß es wohl erklären.« Er kehrte zu seinem Sessel zurück und sagte: »Soviel ist klar, es braut sich ein europäischer Krieg zusammen.«
Wir saßen wie vom Blitz getroffen.
»Ein europäischer Krieg?« erwiderte ich atemlos.
Er nickte und sah sich nach einem Streichholz um.
»Und wenn ich es richtig sehe, wird er fürchterliche Formen annehmen.«
»Aber wie können Sie von Ihren heutigen Erfahrungen zu dieser Voraussage kommen?« Freuds Ton verriet nagende Zweifel an Holmes’ Geisteszustand.
»Aufgrund der Beziehungen zwischen der Baronin Leinsdorf und ihrem Stiefsohn.«
»Aber mir sind keine besonderen Beziehungen aufgefallen«, fiel ich ein, der Skepsis unseres Gastgebers in nichts nachstehend.
»Weil es keine gibt.«
Er setzte sein Glas ab und sah uns mit seinen grauen Augen eifrig an.
»Dr. Freud, gibt es in Wien ein Amt, in dem Testamente aufbewahrt werden?«
»Testamente? Aber natürlich.«
»Dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie morgen dort hingehen und feststellen könnten, an wen der Leinsdorfsche Besitz gefallen ist.«
»Ich habe um zehn eine Visite«, protestierte der Doktor automatisch, aber Holmes lächelte grimmig und hob die Hand.
»Werden Sie mir glauben, daß Millionen von Menschenleben auf dem Spiel stehen?«
»Nun gut, ich werde tun, was Sie wünschen? Und Sie?«
»Ich werde mit Hilfe von Dr. Watson die Achillesferse unseres Feindes suchen«, erwiderte Holmes, indem er seine Pfeife ausklopfte. »Glauben Sie, daß Ihre Patientin morgen einen Ausflug unternehmen kann?«
»Einen Ausflug? Wohin?«
»Oh, innerhalb der Stadt. Ich möchte sie gerne mit jemandem zusammenbringen.«
Freud überlegte eine Weile.
»Ich glaube schon«, sagte er zweifelnd. »Sie scheint ganz gesund, abgesehen von ihrem Geisteszustand und der vom Hunger verursachten Schwäche, und da dürfte inzwischen schon einige Abhilfe geschaffen worden sein.«
Holmes stand auf, gähnte und klopfte sich mit dem Handrücken leicht auf den Mund. »Unser Tag war lang«, bemerkte er, »und da uns längere bevorstehen, ist es Zeit, schlafen zu gehen.«
Womit er sich verneigte und den Raum verließ.
»Wie kommt er nur auf diese Ideen?« verwunderte ich mich.
»Ich habe nicht die geringste Vorstellung.« Freud seufzte. »Auf jeden Fall hat er recht, was das Schlafengehen betrifft. Ich bin schon lange nicht mehr so müde gewesen.«
Auch ich war erschöpft, aber mein Gehirn arbeitete weiter, nachdem ich meinen Körper zur Ruhe gebettet hatte. Ich versuchte, das Puzzle zusammenzusetzen, an das wir bei unserem Aufenthalt in dieser schönen, aber zunehmend unheimlichen Stadt geraten waren. Ein europäischer Krieg! Millionen von Menschenleben! Die Fähigkeiten meines Freundes hatten mich schon oft erstaunt, aber noch nie hatte ich ihn auf einer so schmalen Basis so weitgehende Hypothesen aufbauen sehen. Und wenn er Recht hätte? Du lieber Himmel! Ich weiß nicht, wie Freud die Nacht verbrachte, aber meine Träume übertrafen noch die Ängste, die ich im wachen Zustand ausgestanden hatte. Die fröhliche und farbenfrohe Stadt des Johann Strauß drehte sich nicht länger zu seinen Walzerklängen, sie wirbelte zu den schrillen Tönen entsetzliche Alpträume.
Am nächsten Morgen nahmen wir ein gemeinsames hastiges Frühstück zu uns, bevor wir unseren jeweiligen Aufgaben nachgingen. Holmes aß mit einem Appetit, der zeigte, wieviel besser es ihm ging. Freud nahm entschlossen seine Mahlzeit ein, aber seine Schweigsamkeit und seine besorgte Miene verrieten, daß er wie ich eine unruhige Nacht verbracht hatte.
Wir wollten gerade an der Haustür auseinandergehen, als ein Telegramm für Sherlock Holmes eintraf. Er riß den Umschlag auf und verschlang gierig den Inhalt, dann steckte er es ohne Kommentar in die Tasche seines Tweedjacketts und gab dem Boten zu verstehen, daß er keine Antwort habe.
»Unsere Pläne bleiben unverändert«, sagte er dann, ohne Rücksicht auf unsere deutlich erkennbare Neugier zu nehmen, und verneigte sich leicht gegen Freud. Der Doktor verließ uns sichtlich verstimmt, und Holmes drehte sich zu mir. »Und jetzt, mein lieber Watson, wollen wir uns auf den Weg machen.«
Wir begaben uns mit dem Fiaker geradewegs zum Krankenhaus, wo ein Schreiben von Freud vorlag, das uns ermächtigte,
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