Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
und nein«, erwiderte Holmes. »Sagen Sie«, fuhr er fort, bevor sein Gesprächspartner sein Thema verfolgen konnte, »ist der junge Baron Leinsdorf ein Opernfreund wie sein Vater?«
Die Frage kam so unerwartet, daß von Hofmannsthal sich für einen Moment vergaß und meinen Freund einfach nur anstarrte. Mir leuchtete dagegen die Logik ein; von Hofmannsthal war mit der Wiener Oper verbunden, also mußte er eine intime Kenntnis ihrer Schirmherren besitzen.
»Wie merkwürdig, daß Sie mich das fragen«, erwiderte der Dichter zögernd und drehte geistesabwesend den Stiel seines Glases.
»Warum?« fragte Freud, der die Unterhaltung mit Eifer verfolgt hatte.
»Weil ich bis heute abend mit nein geantwortet hätte.« Von Hofmannsthal sprach jetzt Deutsch, schnell, aber deutlich artikuliert. »Bisher hat er nicht das geringste Interesse gezeigt, und ich sage Ihnen ganz aufrichtig: Ich dachte, daß Wiens musikalische Welt durch den Tod des alten Barons einen schweren Schlag erleiden würde.«
»Und jetzt?« fragte Holmes.
»Und jetzt«, erwiderte der Dichter auf Englisch, »jetzt besucht er die Oper.«
»Er ist hier?«
Von Hofmannsthal, der das alles etwas rätselhaft fand, aber halb davon überzeugt war, daß Holmes’ Fragen sich auf einen ›Fall‹ bezogen, nickte aufgeregt.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen den jungen Baron.«
Es hatte zum zweiten Akt geklingelt, und das Publikum war auf dem Rückweg. Von Hofmannsthal – der gar nicht im Parkett saß (und eigentlich nur ein Glas Sekt für einen offenbar immer noch durstigen Freund holen wollte, als er Freud begegnete) – führte uns zu unseren Plätzen. Dann drehte er sich um und gab vor, nach jemandem in den Rängen Ausschau zu halten. Er gab Holmes einen sanften Stoß mit dem Ellenbogen.
»Dort. Der dritte links von der Mitte.«
Wir folgten dem Hinweis und nahmen zwei Personen in der Loge wahr. Auf den ersten Blick fiel die prächtig gekleidete Dame auf, in deren kunstvoll frisiertem Haar Diamanten blitzten. Sie saß bewegungslos neben einem gutaussehenden Mann, der das Theater unruhig durch sein Opernglas betrachtete. Ein elegant gestutzter Bart umrahmte das Kinn und die schmalen, aber sinnlichen Lippen. Dieses bärtige Kinn kam mir auf eine unangenehme Weise bekannt vor, und einen Augenblick lang hatte ich den Eindruck, daß der bärtige Jüngling uns anstarrte – vielleicht weil Hofmannsthal sich so offensichtlich diskret gebärdete. Der Dichter hatte wohl von Berufs wegen einen Sinn fürs Dramatische und befand sich in dem Glauben, Holmes bei der Untersuchung eines Verbrechens zu unterstützen (was im Grunde ja auch tatsächlich der Fall war). Meiner Meinung nach ließ er sich aber zu sehr von der melodramatischen Seite der Sache hinreißen, wenn er es auch sicher gut meinte.
Plötzlich ließ der Mann in der Lege sein Opernglas sinken, und Freud und ich schnappten nach Luft. Es war der junge Schuft mit der Narbe, den Freud auf dem Tennisplatz im Maumberg geschlagen hatte. Wenn er uns erkannt hatte, so ließ er es sich nicht anmerken. Und falls Holmes unser Staunen bemerkt hatte, so reagierte auch er nicht darauf.
»Wer ist die Dame?« fragte Holmes, der hinter mir stand.
»Ah, ich glaube, das ist seine Stiefmutter«, sagte Hofmannsthal, »die amerikanische Erbin Nancy Osborn Slater von Leinsdorf.«
Ich starrte immer noch auf die kalte Schönheit, als die Lichter ausgingen und Holmes mich am Ärmel zog. Ich kehrte zögernd auf meinen Platz zurück und konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch einen Blick auf das sonderbare Paar zu werfen – den stattlichen jungen Baron und seine statuenhaft reglose Begleiterin, deren Smaragde im Dunkel glitzerten, während sich der Vorhang zum zweiten Akt hob.
KAPITEL ZWÖLF
Enthüllungen
Es bedarf sicher keiner besonderen Erwähnung, daß mein ohnehin schwaches Interesse an der Oper durch Hofmannsthals Identifizierung der schönen Logenbesitzerin nicht eben erhöht wurde. Meine Gedanken wirbelten, als ich mich mühte, diese Information zu verarbeiten. Mit Holmes war nichts anzufangen; ich versuchte, ihm während des Vorspiels etwas zuzuflüstern, aber er legte mahnend den Finger an die Lippen, gab sich ganz der Musik hin und überließ mich meinen eigenen Spekulationen.
Eine Anzahl neuer Möglichkeiten tat sich auf. Entweder war diese Frau wirklich die legendäre Witwe des Munitionskönigs oder eine Hochstaplerin. War sie wirklich, was sie zu sein vorgab – und ich mußte zugeben, daß sie der Rolle
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