Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
seine Patientin mitzunehmen. Physisch schien es ihr besser zu gehen, obwohl sie immer noch furchtbar mager war und kein Wort sprach. Sie kam widerstandslos mit uns und bestieg gehorsam den wartenden Fiaker. Holmes hatte sich die Adresse unseres Ziels auf die Manschette geschrieben, und wir machten uns daran, unsere geheimnisvollen Pläne auszuführen. Zur Natur dieser Pläne wollte er sich in Gegenwart unseres stummen Fahrgastes offenbar nicht äußern.
»Alles zu seiner Zeit, Watson, alles zu seiner Zeit.«
»Was, glauben Sie, wird Dr. Freud im Standesamt finden?« fragte ich, entschlossen, mich von seinen Überlegungen nicht ausschließen zu lassen.
»Etwas, von dem ich weiß , daß er es finden wird.«
Er lächelte unsere Klientin ermutigend an, aber sie starrte, ohne darauf zu achten, mit ausdruckslosen blaugrauen Augen vor sich hin.
Der Fiaker überquerte den Donaukanal, und wir gelangten in ein Viertel mit stattlichen, teilweise palastartigen Villen. Sie lagen alle in einiger Entfernung von der Straße, die Ziertürme und die umfangreichen Gärten waren von Büschen und Hecken abgeschirmt.
In der Wallensteinstraße bogen wir schließlich in eine breite Einfahrt. Sie führte zu seinem häßlichen, leicht erhöht gelegenen Haus mit einem sorgfältig angelegten Vorgarten.
Unter der Wageneinfahrt stand eine geschlossene Equipage, und als wir mit unserer Klientin ausstiegen, öffnete sich die Haustür und ein mittelgroßer Mann mit dem geradesten Rücken, den ich je gesehen habe, trat aus dem Haus. Er trug zwar Zivil, bewegte sich aber mit der unverwechselbaren Präzision eines preußischen Militärs. Seine Gesichtszüge – die mir bekannt vorkamen – wirkten allerdings nicht preußisch. Sie erinnerten mehr an die eines höheren englischen Beamten. Er trug ein Pincenez, einen sorgfältig gestutzten Schnurrbart und erweckte den Eindruck, als würde er nicht wissen oder sich nicht genau daran erinnern, wo er sich befand.
Er verneigte sich gegen uns, oder vielmehr gegen die Dame an meinem Arm, berührte leicht seinen Hut und verschwand in der Equipage, die ohne weitere Anweisung davonrollte.
Holmes starrte dem Fahrzeug einen Moment lang stirnrunzelnd nach.
»Können Sie sich entsinnen, diesen Herrn kürzlich gesehen zu haben, Watson?«
»Ja, aber ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wo. Holmes, wem gehört dieses Haus?«
Er lächelte und zog an der Klingelschnur.
»Es ist die Wiener Residenz des Baron von Leinsdorf«, erwiderte er.
»Holmes, das ist ungeheuerlich!«
»Warum?« Er entwand seinen Arm vorsichtig meinem spontanen Griff. »Der Baron ist zur Zeit nicht hier.«
»Aber wenn er zurückkäme! Sie haben keine Ahnung, was für einen Schaden eine solche Konfrontation anrichten könnte –«, ich zeigte verstohlen auf unsere Begleiterin. »Sie hätten die Sache mit Doktor –«
»Mein lieber Watson«, unterbrach er mich gelassen. »Ihre Gefühle und, soviel ich weiß, auch Ihr Urteil als Arzt machen Ihnen alle Ehre. Aber die Zeit drängt, und wir müssen etwas tun. Im übrigen zeigt sie keinerlei Reaktion beim Anblick des Hauses. Und wer weiß? Vielleicht ist ein Schock gerade das richtige für sie.«
Während er diesen Satz beendete, wurde die Tür schwungvoll geöffnet. Ein livrierter Diener erkundigte sich mit teilnahmsloser Miene nach unseren Wünschen. Holmes übergab ihm seine Karte und bat, sie der Dame des Hauses zu bringen. Er sprach Deutsch, das ihm während unseres Aufenthalts geläufiger geworden war.
Der Mann nahm die Karte, ohne eine Miene zu verziehen, und ließ uns in einem hohen, gewölbten Vestibül warten, von dem aus die enorme rechteckige Eingangshalle zu sehen war. Sie war genauso überladen und abscheulich wie das Äußere des Hauses, mit Eiche getäfelt und mit Wandteppichen, mittelalterlichen Waffen und goldgerahmten Porträts behängt, von denen ich nicht sehen konnte, wen sie darstellten. Spärliches Licht fiel durch die unverhältnismäßig kleinen, bleigerahmten Fenster.
»Haben Sie jemals einen scheußlicheren Ort gesehen?« murmelte Holmes neben mir. »Sehen Sie sich nur die Decke an?«
»Holmes, ich muß wirklich gegen Ihre Methoden protestieren. Sagen Sie mir wenigstens was hier vorgeht. Wer wird in diesen schrecklichen Krieg verwickelt sein?«
»Ich habe leider nicht die leiseste Ahnung«, antwortete er teilnahmslos und fuhr fort, mit Mißfallen die hölzernen Rokokoschnitzereien zu unseren Häuptern zu mustern.
»Wie in aller Welt
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