Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
heftig und sah in beträchtlicher Verwirrung von mir zu Holmes.
»Sein Herz«, sagte sie einfach, mit fast unhörbarer Stimme.
Ich hustete, um meine eigene Verwirrung zu verbergen, während Holmes sich erhob.
»Ich bedauere, das zu hören. Nun, Watson, diese Angelegenheit ist erledigt«, sagte er in leichtem und, wie ich fand, gefühllosem Ton. »Unser kleines Geheimnis ist gelöst.« Er streckte seine Hand nach Nora Simmons aus. »Gnädige Frau, bitte verzeihen Sie, daß wir Ihre Trauer gestört und Ihre wertvolle Zeit in Anspruch genommen haben.«
»Aber Sie wollen sie doch nicht etwa mitnehmen!« rief die Baronin und stand auf. »Ich habe sie doch gerade erst wiedergefunden, und ich versichere Ihnen, Mr. Holmes, ich brauche sie dringend für mein Wohlergehen!«
»In ihrem gegenwärtigen Zustand könnte sie Ihnen kaum von Nutzen sein«, bemerkte Holmes trocken. »Sie braucht ja selbst aufopfernde Pflege.« Erneut streckte er die Hand nach ihr aus.
»Oh, aber ich werde sie pflegen«, entgegnete die Dame mit Nachdruck. »Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß sie mehr meine Freundin als meine Dienerin ist?«
Ihre Bitte klang so flehend, daß ich ihr schon beipflichten wollte, denn liebevolle Pflege kann manchmal Wunder wirken, wenn die Medizin versagt. Aber Holmes sagte mit Bestimmtheit: »Leider ist das gegenwärtig gar nicht möglich, denn Ihr Mädchen ist Patientin von Dr. Sigmund Freud im Allgemeinen Krankenhaus; wir sind schon sehr weit gegangen, sie ohne seine volle Zustimmung hierherzubringen. Ich habe es nur getan, weil ihre Identifizierung mir äußerst dringlich schien.«
»Aber –«
»Andererseits kann ich möglicherweise den Doktor dazu überreden, Ihnen die Patientin zur Pflege zu übergeben. Sie waren in Providence zweifellos in der Armenpflege für die Kirche tätig?«
»O ja, ich war sehr aktiv in unserer Pfarrei«, bestätigte die Baronin eilig.
»Das dachte ich mir. Sie können versichert sein, daß ich Dr. Freud davon unterrichten werde, und er wird es bestimmt mit in Betracht ziehen, wenn die Zeit für die Entlassung seiner Patientin gekommen ist.«
Sie wollte antworten, aber Holmes war von liebenswürdiger Beharrlichkeit, und wir verabschiedeten uns und nahmen die unglückliche Dienerin mit.
Unser Fiaker wartete auf uns, wo wir ihn verlassen hatten, und Holmes brach beim Einsteigen in ein lautloses Lachen aus.
»Eine ausgezeichnete Vorstellung, Watson. Unverfrorenheit und Einfallsreichtum, gepaart mit dem vollendeten Künstlertum einer Ellen Terry. Sie waren natürlich auf eine solche Eventualität eingerichtet. Die Frau ist gut vorbereitet worden.«
»Die Baronin ist also eine Hochstaplerin?« Es schien beinahe unmöglich, daß dieses herrliche Geschöpf eine Betrügerin sein sollte, aber Holmes nickte müde und wandte den Kopf unserem Fahrgast zu.
»Diese arme Frau hier ist die echte Baronin von Leinsdorf – was immer ihr das einbringen wird«, fügte er ernst hinzu. »Aber vielleicht gelingt es uns, ihr einige ihrer Rechte, wenn auch nicht ihren gesunden Verstand, zurückzugeben.«
»Wie können Sie wissen, daß die andere lügt?«
»Sie meinen, womit sie sich verraten hat – abgesehen von der unerhörten Geschichte von einer Dienerin, die ohne eine Nachricht zu hinterlassen, flieht, weil der Hausherr einem Herzfehler erliegt?«
Ich nickte und erklärte, daß mir das ganz plausibel erschienen sei.
»Vielleicht gibt es zwischen den beiden Ereignissen einen Zusammenhang, den wir nicht kennen und der ihre Handlungen erklären könnte«, fuhr ich fort, darum bemüht, eine Theorie zu entwickeln, die allmählich Formen annahm.
»Vielleicht«, stimmte er lächelnd zu. »Aber gewisse Tatsachen sprechen für den Schluß, zu dem ich bereits gelangt bin.«
Die herablassende Rede meines Freundes irritierte mich mehr als sonst, was gleich mehrere Gründe hatte: Zum einen war die schöne Frau – im Gegensatz zu unserer eigenen, nicht eben geistig regen Kandidatin für diese Rolle – als Baronin ausgesprochen überzeugend gewesen. Und dann erstaunte mich die Selbstsicherheit meines Freundes, denn schließlich war er selbst noch eine Woche zuvor in den Klauen des Wahnsinns gefangen gewesen – aus denen er sich nur mit meiner Hilfe hatte befreien können.
»Und was sind das für Tatsachen?« fragte ich skeptisch.
»Es mag Sie interessieren«, erwiderte er, ohne die Feindseligkeit in meiner Stimme zu beachten, und reichte mir das früher am Tage eingetroffene Telegramm,
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