Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
Haus in Bayern, wo der Ehemann als erstes sein Testament zugunsten seiner Frau ändert. Ihre Religion und seine eigene, mit fortschreitenden Jahren veränderte Einstellung machen es ihm unmöglich, ein Imperium bestehen zu lassen, das der Herstellung von Kriegsmaterial dient. Da er weder die Kraft besitzt noch die Lust dazu hat, seine letzten Lebensjahre mit der Demontage seiner Fabriken zu verbringen, legte er einfach die ganze Angelegenheit in die Hände seiner Frau, die im Falle seines Ablebens verfahren kann, wie sie will.
Der alte Herr hat aber nicht mit der Wut seines ›verlorenen Sohnes‹ gerechnet, oder er hat sie unterschätzt. Der junge Teufel, der sich plötzlich eines Millionenvermögens beraubt sieht, ist bereit, drastische Schritte zu unternehmen, um es zurückzugewinnen. Politisch rechts stehend und im neuen Deutschen Reich aufgewachsen, besitzt er gewisse Kontakte, von denen er Gebrauch macht. Man nähert sich gewissen Leuten; Leuten, die nicht beabsichtigen, einer ausländischen Bürgerlichen – dazu noch einer Frau – die wichtigste Grundlage für des Kaisers Kriegsmaschinerie zur Demontage zu überlassen. Der junge Mann bekommt freie Hand, und es wird ihm zweifellos Unterstützung zugesagt. Wir wissen noch nicht wie, aber er führt den Tod seines Vaters auf irgendeine Weise herbei –«
»Holmes!«
»Dann läßt er seine Stiefmutter aus Deutschland verschwinden und versteckt sie in einem Speicherhaus am Donaukanal, hier in Wien. Das Testament des Vaters ist in den zwei Ländern, in denen er Besitz hatte, amtlich registriert, und die Witwe wird jetzt gedrängt, das Erbe auf den Sohn zu überschreiben. Sie weigert sich tapfer. Ihre Liebe und ihre religiösen Überzeugungen geben ihr die Kraft, Hunger und alle möglichen Drohungen zu ertragen. Ihr Geisteszustand wird von der Einsamkeit in ihrem Gefängnis angegriffen. Es gelingt ihr, sich zu befreien. Aber erst da wird ihr die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage klar. Sie spricht kein Wort Deutsch, kennt niemanden und ist zu geschwächt für irgendeine Initiative. Der Sprung von der Brücke ist die naheliegendste und einfachste Lösung, aber die zufällig vorbeikommenden Polizisten hindern sie daran, und sie zieht sich in den hilflosen Zustand zurück, den Sie, Doktor, schon so glänzend beschrieben haben.«
Er machte eine Pause und zog mehrere Male heftig an seiner Pfeife, um uns Gelegenheit zu geben, seine Erörterungen zu verdauen.
»Und die Dame, die wir in der Oper sahen?« fragte Freud, der sich gedankenvoll zurückgelehnt hatte und Rauchwolken aus seiner Zigarre stieß.
»Der junge Mann, gegen den wir ins Feld ziehen, ist wagemutig und verschlagen. Sobald er feststellte, daß seine Stiefmutter entkommen war, traf er eine rasche Entscheidung. Da ihre hilflose Lage ihm so klar ist wie ihr selbst, beschließt er, sie zu ignorieren. Soll sie ihre Geschichte jedem erzählen, dem sie sich verständlich machen kann – der Gedanke muß ihn amüsiert haben –, er läßt sich nicht auf eine Suche ein, die nur Verdacht aufkommen ließe. Er beschloß, jemanden anzuheuern, der ihre Rolle übernimmt. Die Testamentsangelegenheiten erledigte er mit einer gefälschten Unterschrift; denn wer würde schließlich die Entscheidung der Witwe anfechten? Ich weiß nicht, wo er seine gelehrige Schülerin fand; vielleicht ist sie selbst das Dienstmädchen, das sie zu erkennen vorgab, oder auch eine erfolglose und fern der Heimat gestrandete amerikanische Schauspielerin. Aber wer immer sie ist, man hat sie gut in ihre Rolle eingeübt und sicher auch gut bezahlt.
Für den Fall, daß die Stiefmutter auftauchte, versah er ihre Stellvertreterin mit einer glaubhaften Geschichte. Er muß gewußt haben, daß seine Stiefmutter vor ihrer Flucht den Verstand verlor. Er war zuversichtlich, daß sie vorläufig von niemandem ernst genommen werden würde. Sie werden sich entsinnen, Watson, daß die Frau, mit der wir heute sprachen, unsere Klientin als Nora Simmons bezeichnete. Das war eine geniale Idee des jungen Barons, obwohl es als Vorsichtsmaßnahme so extravagant ist, daß es meinen Verdacht erregte. Es könnte ein bedeutungsloser Zufall sein, daß Dienstmädchen und Herrin die gleichen Initialen haben, aber nicht, wenn man bedenkt, daß die Witwe während ihrer Gefangenschaft und ihrer Flucht vielleicht Kleider mit ihren Initialen trug. Vielleicht hätte er besser verbreitet, daß sie mit Kleidern ihrer Herrin aus dem Haus verschwunden sei«, fuhr er grübelnd fort,
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