Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
hat.«
»Einen verkümmerten Arm?«
»Das Resultat einer Kinderkrankheit – möglicherweise spinaler Kinderlähmung. Ich bin nicht sicher. In jedem Fall ist er ein physisch nicht intakter Mann.« Hier zögerte Freud und sah mich von der Seite an. »Sie sind die ersten, denen ich diese sonderbare Theorie anvertraue.«
Holmes betrachtete ihn hinter dem Schleier seines Pfeifenrauchs.
»Fahren Sie fort.«
»Nun, kurz gesagt, ich halte es für möglich, daß das Gewicht, das der Kaiser auf diesen Demonstrationen seiner Stärke legt, die Liebe für farbenfrohe Uniformen – insbesondere mit Umhängen, die seine Deformierung verbergen –, für Paraden, für die Orden, mit denen er sich schmückt, daß diese kriegerischen Vorlieben alle sein Gefühl persönlicher Unzulänglichkeiten manifestieren. Man kann sie alle als sorgfältig erdachte Kompensationen für den verkümmerten Arm auslegen. Ein gewöhnlicher Krüppel braucht diese Minderwertigkeitsgefühle nicht zu haben, aber er ist der Monarch und entstammt einer langen Reihe edler und heroischer Ahnen.«
Ich war so vertieft in die Ausführungen des Doktors, daß ich Holmes’ Anwesenheit ganz vergaß. Als Freud geendet hatte, hob ich meinen Blick und sah, daß Holmes ihn aufmerksam und erstaunt betrachtete. Langsam ließ er sich mir gegenüber im Sessel nieder.
»Das ist höchst bemerkenswert«, sagte er schließlich. »Wissen Sie, was Sie getan haben? Sie haben meine Methoden genommen – Beobachtung und Schlußfolgerung – und sie auf das Seelenleben einer ganz gewöhnlichen Person angewendet.«
»Wohl kaum eine gewöhnliche Person.« Freud Lächelte ein wenig. »In jedem Fall hoffe ich, daß Ihre Methoden – wie Sie sie nennen – nicht von einem Patent geschützt sind.« Sein Ton war milde, aber man hörte die Befriedigung heraus. Er war, wie Holmes, nicht ohne Eitelkeit. »Meine Vermutungen könnten sich allerdings als ganz falsch herausstellen. Sie selbst kennen die Gefahren einer Beweisführung ohne ausreichende Fakten.«
»Bemerkenswert«, wiederholte Holmes. »Es hört sich nicht nur wahr an – oder plausibel, wenn Sie das vorziehen –, es verträgt sich auch mit gewissen Tatsachen und Theorien, die ich Ihnen jetzt unterbreiten werde.« Er stand wieder auf, unterbrach sich aber noch einmal. »Bemerkenswert. Wissen Sie, Doktor, es würde mich nicht wundern, wenn Ihre Anwendung meiner Methoden auf die Dauer mehr Bedeutung haben wird als der eher mechanische Gebrauch, den ich davon mache. Vergessen Sie aber nie die physischen Einzelheiten. Wie weit Sie auch in den Geist eindringen mögen, sie bleiben stets von höchster Wichtigkeit.«
Sigmund Freud nickte und verneigte sich, wohl ziemlich überwältigt von der unerwarteten und überschwenglichen Lobrede des Detektivs.
»Nun, also«, hob Holmes an, nachdem er sich gesammelt hatte, »lassen Sie mich eine Geschichte erzählen.« Er zündete seine erloschene Pfeife wieder an, während der Doktor sich zum Zuhören zurechtsetzte. Wie der Detektiv war Sigmund Freud ein guter Zuhörer, obwohl sich ihr Interesse in völlig unterschiedlicher Weise manifestierte. Freud lauschte nicht mit geschlossenen Augen und zusammengepreßten Fingerspitzen. Im Gegenteil, er legte seine bärtige Wange in die offene Handfläche, stützte seinen Ellbogen auf die Sessellehne, schlug ein Bein übers andere und beobachtete den Sprechenden mit großen, traurigen, unbewegten Augen. Selbst der starke Rauch der Zigarre, die er in der anderen Hand hielt, brachte ihn nicht zum Blinzeln. In solchen Momenten hatte man den Eindruck, als blicke er einem direkt in die Seele, ein Eindruck, der Holmes als sensiblem Beobachter nicht entging, während er seine Erzählung begann.
»Ein wohlhabender Witwer mit einem einzigen Sohn, den er nicht besonders schätzt – was auf Gegenseitigkeit beruht –, reist in die Vereinigten Staaten. Hier trifft er eine junge Frau, die nur halb so alt ist wie er, und trotz dieser Ungleichheit – oder vielleicht wegen ihr – verlieben sie sich ineinander. Er weiß, daß seine Lebensdauer begrenzt ist, und sie heiraten sofort. Die Frau entstammt einer begüterten Quäkerfamilie, und das Paar wird in einer Quäkerkirche, Andachtshaus * genannt, getraut. Als unsere Klientin diesen Ausdruck verwendete, mißverstanden wir ihn als ›Meat House‹, brachten ihn in Verbindung mit den hypothetischen Speicherhaus und gerieten so vorübergehend auf eine falsche Spur.
Das Paar begibt sich in das abgelegene
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