Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
gelangen. Sie startete von dem großen Bahnhof, in dem Holmes und ich einst – es schien Äonen her zu sein – angekommen waren.
Die Weichen nahmen kein Ende, und Freud und ich waren wirklich in Schweiß gebadet, nachdem der letzte Wechsel vorüber war und wir wirklich und wahrhaftig mit zunehmender Geschwindigkeit in die Nacht hineinrauschten.
Inzwischen hatte Holmes dem Lokomotivführer und dem Stationsvorsteher die Umstände erklärt, und sie waren wie ausgewechselt. Man brauchte sie nicht mehr mit dem Revolver zu bedrohen – den Holmes allerdings für alle Fälle in der Tasche behielt –, sie waren auch so bereit, ihr möglichstes zu tun.
Die Nachtluft war kühl, aber es gab genug zu tun, um uns warm zu halten. Wer nie in seinem Leben Kohle geschaufelt hat, der kann sich nicht vorstellen, wie anstrengend es ist. Aber um schnell genug zu sein, den Zug des Barons zu überholen, mußte der Kessel mit Kohlen vollgepackt werden.
Und wie wir packten! Während Städte und Felder in der Dunkelheit an uns vorbeiflogen, schaufelten Freud und ich, als ob unser Leben davon abhinge. Ich gab als erster auf. Meine Beinverletzung war während des Weichenwechsels immer schmerzhafter geworden. In meiner Erregung hatte ich es nicht bemerkt, aber jetzt machte mir der pochende Schmerz zu schaffen. Ich war der Jezail-Kugel, die mich vor so vielen Jahren bei der Schlacht von Maiwand in Afghanistan getroffen hatte, nur zu gewahr.
Bis Neulengbach hielt ich aus, dann mußte Holmes für mich einspringen. Er übergab mir die Waffe, und ich ließ mich, mit dem Rücken gegen eine der Eisenwände gelehnt, auf den Boden sinken und hielt mein Bein, ohne jedoch den Revolver aus den Augen zu lassen. Ich spürte jetzt die Kälte des Nachtwindes und begann zu zittern, aber ich biß die Zähne zusammen und ließ mir nichts anmerken. Meine Freunde hatten schon genug zu tun.
Aber Holmes, der sich mit einer leeren Schaufel umwandte, bemerkte meinen Zustand. Ohne ein Wort legte er die Schaufel hin, nahm seine Pelerine ab und warf sie mir über. Zum Sprechen war keine Zeit. Ich sah ihn nur dankbar an, und er nickte kurz und klopfte mir tröstend auf die Schulter, bevor er die Arbeit wieder aufnahm.
Es war ein Anblick, den ich nie vergessen werde – der größte Detektiv der Welt und der Begründer der Psychoanalyse Seite an Seite in Hemdsärmeln, die Kohlenschaufel schwingend, als ob sie zu dieser Arbeit geboren wären!
Freuds Kräfte ließen allerdings zusehends nach. Er hatte soviel getan wie ich, und wenn ihn auch keine alte Wunde behindert, so war doch klar, daß er solche Anstrengungen nicht gewöhnt war.
Holmes erfaßte die Situation und befahl ihm, zu pausieren. Er bat den Stationsvorsteher, den Platz des Doktors einzunehmen. Dieser war gerne dazu bereit und streckte die Hand nach der Schaufel aus. (Wäre der Raum zwischen Tender und Lokomotive nicht so schmal gewesen, hätte er uns zweifellos schon vorher geholfen, aber es war nur Platz für zwei.)
Freud weigerte sich, die Schaufel herzugeben, und behauptete, er sei noch stark genug. Aber Holmes beharrte darauf, daß Freud jetzt ausruhen müsse, um später jemand anderen zu entlasten. Die Meinungsverschiedenheit dauerte an, während wir Boheimkirchen passierten, aber Freud gab schließlich nach und überließ die Schaufel dem Stationsvorsteher, der sich energisch an die Arbeit machte.
Freud zog seufzend sein Jackett über und setzte sich mir gegenüber.
»Zigarre?« schrie er.
Er hielt mir eine hin, und ich nahm dankbar an. Freud rauchte vorzügliche Zigarren, und er rauchte sie ununterbrochen, ganz wie Holmes seine Pfeife. Nur war Holmes weniger wählerisch, was die Qualität des Tabaks betraf, was entsprechende Geruchseffekte zur Folge hatte.
Freud und ich rauchten schweigend. Holmes und der Stationsvorsteher fuhren fort, Kohle in den Kessel zu häufen, während der Lokomotivführer die Druckmesser, die Regler und die Schienen vor uns im Auge behielt. Sein besorgter Ausdruck verriet Mißbilligung über die Art und Weise, in der seine Lokomotive behandelt wurde. Einmal fordert er die Heizer nach kurzer Prüfung des Druckmessers auf, nicht so viel Kohle zu verbrennen.
»Sonst explodiert sie!« schrie er durch den Lärm.
»Das wird sie nicht!« erwiderte der Stationsvorsteher ärgerlich. »Achten Sie nicht auf ihn, Herr Holmes. Ich habe Lokomotiven wie diese gefahren, als er noch kurze Hosen trug. Explodieren!« wetterte er und warf eine gehäufte Schaufel voll in die
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