Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
Mann ihm die Schwierigkeiten in allen Einzelheiten unterbreitete. Seine Augen schweiften über die Bahnsteige und blieben schließlich an einer Lokomotive mit Tender und einem einzelnen Wagen haften, die bereits Rauch ausstieß.
»Sie sehen also, mein Herr –«
»Ich habe leider keine Zeit für Diskussionen«, unterbrach ihn Holmes und zog meinen Revolver. »Wir nehmen diesen Zug da, wenn es Ihnen recht ist.« Er zeigte mit der Pistole auf die Lokomotive.
Der Mann war vor Erstaunen wie gelähmt, aber dem Wachtmeister schienen die Dinge jetzt doch etwas zu weit zu gehen.
»Ich muß doch sagen –«, begann er, doch mein Freund hatte kein Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung.
»Benachrichtigen Sie telefonisch die Grenzstation«, ordnete er an. »Lassen Sie um jeden Preis den Zug anhalten. Sie sollen jede erdenkliche Ausrede gebrauchen, um das Gepäck zu durchsuchen. Sputen Sie sich, Mann, jeder Moment ist kostbar. Das Leben einer Frau und der Lauf der Geschichte hängen davon ab, daß Sie sich beeilen!«
Der Wachtmeister, der in jahrelanger Ausbildung darauf gedrillt war, scharfen Befehlen zu gehorchen, setzte sich ohne weiteren Einspruch in Bewegung.
»Sie werden die Güte haben, uns zu begleiten«, informierte Holmes den Stationsvorsteher, und der arme Mensch ergab sich achselzuckend in sein Schicksal. Der Lokomotivführer überprüfte gerade die Räder, wurde aber schnellstens ins Bild gesetzt. Er hob die Augenbrauen, als der Stationsvorsteher ihm zu verstehen gab, daß er ab sofort der Fahrer eines Extrazuges sei, traf aber alle nötigen Vorbereitungen, die Lokomotive aus der Station zu fahren.
»Wohin?« fragte er, als er sah, daß der Stationsvorsteher nicht die Absicht hatte, den Zug zu verlassen.
»Nach München«, befahl Holmes und zeigte ihm den Revolver. »Doktor«, wandte er sich gleich darauf an Freud, noch bevor der Lokomotivführer antworten konnte, »es ist nicht nötig, daß Sie mitkommen. Wollen Sie lieber hierbleiben?«
Sigmund Freud lächelte wehmütig und schüttelte den Kopf.
»Ich bin inzwischen zu sehr in die Affäre verwickelt, als das ich jetzt aufgeben könnte«, sagte er, tapfer, wie er nun einmal war, »und ich habe mein eigenes Hühnchen mit dem Baron zu rupfen. Außerdem ist die Frau meine Patientin.«
»Ausgezeichnet. Jetzt –«
»Aber wir haben nicht genug Brennstoff, um nach München zu kommen«, protestierte der Lokomotivführer, nachdem er den ersten Schrecken über den Revolver und das weit entfernte Reiseziel überwunden hatte, »und die Weichen – die Weichen sind falsch gestellt!«
»Mit dem ersten Problem werden wir schon fertigwerden, wenn die Zeit gekommen ist«, erwiderte ich. »Und die Weichen werden wir selbst während der Fahrt umstellen.«
»Sie setzen mich immer wieder in Erstaunen, Watson.« Holmes lächelte spöttisch. »Auf geht’s – mit Höchstgeschwindigkeit!«
Lokomotivführer und Stationsvorsteher starrten einander hilflos an. Der Stationsvorsteher nickte resigniert, der Lokomotivführer stieß einen pessimistischen Seufzer aus, drehte ein Rad, und wir rollten davon.
KAPITEL FÜNFZEHN
Verfolgung!
Von Höchstgeschwindigkeit konnte natürlich gar keine Rede sein, schon gar nicht während der Ausfahrt aus Wien. Es mußten zu viele Weichen gestellt werden, und die Strecke, die um die Wiener Vororte herumführte, war nicht für Schnellverkehr angelegt. So war die erste halbe Stunde wirklich nervenaufreibend. Dr. Freud und ich mußten ständig von der Maschine springen, um nach den Anweisungen des Fahrers zahllose Weichen umzustellen, während Holmes mit Hilfe des Revolvers dafür sorgte, daß weder der Stationsvorsteher noch der Fahrer auf falsche Gedanken kamen.
Es wurde zusehends dunkel, was uns unsere Aufgabe zusätzlich erschwerte. Die Weichen waren schwer zu erkennen, und außerdem mußten wir sie aus Sicherheitsgründen wieder nach Vorbeifahrt des Zuges zurückstellen, denn wir wollten keinen Unfall verursachen.
Es wäre, wie Holmes feststellte, ironisch gewesen, wenn wir, um eine Frau zu retten, Hunderte von Menschen getötet hätten.
Dazu kam, daß die Weichen schwer zu bewegen waren. Es erforderte manchmal die Kraft zweier Männer, sie zu wechseln. Ich war dankbar, daß Freud sich entschieden hatte, uns zu begleiten. Ohne ihn wäre unsere Situation unerträglich gewesen.
Wir kamen durch den Hernalser Park, von dem ich der Dunkelheit wegen nicht viel sah, und fuhren weiter in Richtung Süden, um auf die Hauptstrecke zu
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