Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
Doktor, wenn Sie nicht zufällig selbst Zeuge gewesen wären, hätten Sie es doch auch nicht geglaubt!«
Das mußte ich bejahen.
»Nun, darin liegt unser Problem. In jedem Fall ist es fraglich, ob er lange genug hierbleiben würde, um uns Gelegenheit zu geben, auf andere Weise in diese seine innersten Tiefen einzudringen. Er hat es schon jetzt sehr eilig, aufzubrechen.«
Wir argumentierten noch eine Weile, aber ich wußte im Grunde von Anfang an, daß er recht hatte. Die Methoden, die Sherlock Holmes helfen würden, mußten erst noch erfunden werden.
»Sie müssen Mut fassen«, ermunterte mich Freud. »Immerhin ist Ihr Freund ein funktionierender Mensch. Er tut wichtige Arbeit, und er könnte sie nicht besser tun. Er mag unglücklich sein, aber er ist dennoch erfolgreich und wird sogar geliebt.
Eines Tages wird die Wissenschaft den Geheimnissen des menschlichen Geistes auf die Spur kommen«, schloß er, »und wenn dieser Tag kommt, dann wird Sherlock Holmes sein Verdienst daran gehabt haben – auch wenn sein eigenes Hirn nie von seiner schrecklichen Last befreit wird.«
Dann verfielen wir beide in Schweigen. Schließlich machte sich Freud daran, den Detektiv aus seiner Trance zu wecken. Er konnte sich an nichts erinnern, wie es ihm vorgeschrieben worden war.
»Habe ich Ihnen irgend etwas von Bedeutung gesagt?« erkundigte sich Holmes und zündete sich eine neue Pfeife an.
»Ich fürchte, es war nicht besonders aufregend«, erwiderte Freud lächelnd. Es gelang mir, dabei in eine andere Richtung zu blicken, während Holmes begann, zum letzten Mal im Zimmer herumzuwandern und sehnsüchtig die zahllosen Bücher zu betrachten.
»Was werden Sie für die Baronin tun?« fragte er und griff nach seiner Pelerine.
»Was ich kann.«
Beide lächelten, und kurz darauf verabschiedeten wir uns von den restlichen Mitgliedern des Haushalts: Paula, Frau Freud und der kleinen Anna, die dicke Tränen vergoß und mit einem nassen Taschentuch hinter unserer Droschke herwinkte. Holmes rief zurück, daß er eines Tages wiederkommen und die Geige für sie spielen werde.
Während der ganzen Fahrt zum Bahnhof war er in gedankenvolles Schweigen versunken. Er war in so melancholischer Stimmung, daß ich ihn nicht stören wollte, obwohl dieser plötzliche Stimmungswechsel mich überraschte und beunruhigte. Immerhin fühlte ich mich auf dem Bahnhof verpflichtet, ihn darauf hinzuweisen, daß wir uns irrtümlich auf dem Bahnsteig des Mailand-Expreß befanden. Er lächelte mich an und schüttelte den Kopf.
»Es ist kein Irrtum, Watson«, sagte er.
»Aber der Zug nach Dover fährt –«
»Ich kehre nicht nach England zurück.«
»Nicht?«
»Vorläufig nicht. Ich glaube, ich muß ein wenig allein sein, ein wenig nachdenken – und ja, ich muß lernen, mich zusammenzunehmen. Sie fahren ohne mich.«
»Aber –« Ich stockte, überwältigt von dieser Wendung. »Wann werden Sie zurückkommen?«
»Eines Tages«, erwiderte er vage. »Inzwischen«, fuhr er etwas lebhafter fort, »informieren Sie bitte meinen Bruder von meinem Entschluß, und bitten Sie ihn, Mrs. Hudson mitzuteilen, daß ich meine Wohnung behalten will und daß keiner hinein darf. Ist das klar?«
»Ja, aber –« Es war zwecklos. Er war fest entschlossen. Ich blickte mich hilflos auf dem geschäftigen Bahnhof um, voll Ärger über meine eigene Unfähigkeit, mit dieser Laune von ihm fertig zu werden. Ich wünschte sehnlichst Freud herbei.
»Mein lieber Freund«, sagte er nicht ohne Herzlichkeit und hielt meinen Arm, »Sie müssen es nicht so schwer nehmen. Ich sage Ihnen, ich werde gesund werden. Aber ich brauche Zeit. Vielleicht lange Zeit.« Nach einer Pause sagte er hastig: »Ich werde in die Baker Street zurückkehren, ich gebe Ihnen mein Wort. Bitte richten Sie Mrs. Watson meine besten Grüße aus«, schloß er und drückte mit Wärme meine Hand. Dann bestieg er den Zug nach Mailand, der bereits langsam aus der Station rollte.
»Aber Holmes, wovon werden Sie leben? Haben Sie Geld?« Ich lief neben dem Zug her, und meine humpelnden Schritte wurden immer länger.
»Nicht viel«, gab er mit sorglosem Lächeln zu, »aber ich habe meine Geige, und ich werde mich selbst schon ernähren können, wenn mein Arm erst einmal geheilt ist.« Er kicherte. »Wenn Sie wissen wollen, was aus mir geworden ist, verfolgen Sie nur die Karriere des Violonisten Sigerson.« Er hob die heile Schulter. »Sollte das fehlschlagen, kann ich immer noch Mycroft telegrafieren, er soll mir
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